INTERVIEW

„Die Vorsorge ist erschreckend schlecht“

von Redaktion

Prof. Volker Heinemann über Fortschritte und Versäumnisse im Kampf gegen Krebs

Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in der Europäischen Union. © dpa-infografik

Neue Wege in der Therapie: Ein Forscher hält eine sogenannte Deepwell-Platte. Bei diesem Brustkrebs-Prognosetest werden Schnitte von Tumorgewebe mit Magnetpartikeln in einen Pipetierroboter geladen, der vollautomatisch Nukleinsäuren extrahiert und auf Tumor-Gene analysiert. Der Test soll helfen, den Krankheitsverlauf besser einzuschätzen. © Imago

München – Die Anfänge der modernen Krebsmedizin liegen weit zurück. Das erste Chemotherapeutikum wurde 1949 in den USA zugelassen: N-Lost – Senfgas. Ursprünglich wurde Senfgas im Ersten Weltkrieg als chemischer Kampfstoff eingesetzt, später ergaben Studien, dass die Chemikalie aus der Gruppe der Loste bei Menschen mit Blutkrebs positive Ergebnisse bringt. Seitdem sucht die Forschung unablässig nach Wegen, um die tückische Krankheit in den Griff zu bekommen. Die Genforschung rückt dabei verstärkt in den Mittelpunkt.

Die Bayerische Krebsgesellschaft ist noch älter als die erste Chemotherapie. 100 Jahre wird sie heuer. Prof. Volker Heinemann, Direktor des Krebszentrums CCC am Münchner LMU Klinikum, ist seit 2024 Präsident der Organisation. Im Interview erklärt der Experte, welche Neuerungen bei der Krebstherapie große Hoffnungen machen – und wie es klappen könnte, viele Krebserkrankungen zu vermeiden.

Herr Heinemann, Krebs ist oft immer noch eine tödliche Diagnose. Aber in der Therapie gibt es hoffnungsvolle Neuerungen.

Die Immuntherapie, für die es 2018 den Nobelpreis für Medizin gab, hat die Krebstherapie revolutioniert. Denn sie macht es uns möglich, das Immunsystem dazu zu bringen, bösartige Krebszellen zu bekämpfen. Veränderungen der Erbinformation, die zu einem unkontrollierten Zellwachstum führen, sind durchaus häufig. Aber erst, wenn die mutierten Zellen durch das Immunsystem nicht mehr als fehlerhaft erkannt und beseitigt werden, besteht die Möglichkeit der Entwicklung einer gefährlichen Krebserkrankung. Die Krebszellen können dann überleben und wachsen, ohne abhängig zu sein von den das Zellwachstum regulierenden Signalen des Körpers, in dem sie entstanden sind. Derzeit erweitert die sogenannte Präzisionsonkologie unsere Möglichkeiten enorm. Es handelt sich um eine individuelle Diagnostik. Wir identifizieren die Ursachen der jeweiligen Krebserkrankung auf Gen-Ebene. Und dank einer Fülle neuer Medikamente gelingt es uns dann, den jeweiligen Tumor an seinen ganz individuellen Schwachstellen anzugreifen.

Künstliche Intelligenz hält überall Einzug. Auch in der Krebsforschung?

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist eine weitere Revolution, die bei der Behandlung vor der Tür steht. Schon jetzt kann KI helfen, Hautkrebs zu erkennen. Ebenso wird KI in Forschungsprojekten der Pathologie dazu eingesetzt, Krebszellen in Gewebeproben zu identifizieren. Großes Potenzial verspricht man sich auch von der Verwendung in der diagnostischen Radiologie, wenn beispielsweise Röntgen- oder CT-Bilder ausgewertet werden. Der Blick des geschulten Radiologen wird dadurch nicht entbehrlich, aber KI kann nach entsprechendem Training Abweichungen von der Norm entdecken und so die diagnostische Sicherheit erhöhen. Zudem wird in der Chirurgie die Robotik immer wichtiger, auch die Strahlentherapie wird dank modernster Technik präziser und damit nebenwirkungsärmer.

Wird es der Medizin irgendwann gelingen, den Krebs zu besiegen?

Ich denke, dies kann nicht vollständig gelingen, vor allem nicht bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen, wenn die Tumore schon in den Körper gestreut haben. Krebs an sich ist genetisch instabil, kann sich ständig verändern und so Ausweichmöglichkeiten finden und sich vor Therapiemaßnahmen verstecken. Aber es gibt sehr viele Therapien, die Hoffnung geben und mit denen Krebs in eine chronische Krankheit überführt wird. Zum Beispiel Checkpoint-Inhibitoren, die getarnte Krebszellen für das Immunsystem sichtbar und bekämpfbar machen.

Krebs ist also keine Zivilisationserkrankung, sondern begleitet uns schon immer.

Entartete Krebszellen wurden schon bei mit dem Menschen verwandten Lebewesen vor mehr als zwei Millionen Jahren festgestellt. Die Behandlung von Krebs ist aber ziemlich neu: Bevor im Jahr 1949 die erste Chemotherapie angewendet wurde, gab es nur die Möglichkeit, Tumore operativ zu entfernen. Und: Umso älter Menschen werden, umso häufiger entwickeln sie Krebszellen: Im 19. Jahrhundert lag die mittlere Lebenserwartung bei unter 40 Jahren, heute liegt sie bei über 80 Jahren. Es gibt noch eine beunruhigende Entwicklung: Wir stellen immer mehr aggressive Krebserkrankungen bei jungen Menschen fest, vor allem Darmkrebs tritt immer häufiger auch im jungen Alter auf. Die Ursachen kennen wir noch nicht. Es kann an der Ernährung liegen, an Umweltgiften, an fehlender Bewegung, wahrscheinlich sind mehrere Faktoren beteiligt.

Gibt es nicht nur Fortschritte, sondern auch Versäumnisse beim Kampf gegen Krebs?

Ja, vor allem im Bereich der Vorsorge. Experten gehen davon aus, dass 40 Prozent der Krebsfälle durch eine gesunde Lebensführung und Vorsorgemaßnahmen verhindert werden könnten. Erschreckenderweise gibt es da aber tödliche Versäumnisse: Zwei Beispiele: Noch immer gibt es in Deutschland 11,6 Millionen Raucher. Dabei ist Rauchen unstreitig für 30 Prozent aller Krebserkrankungen ursächlich, für 90 Prozent der Tumore in Rachen und Mundhöhle. Aktives und passives Rauchen ist die Ursache für 90 Prozent aller Lungentumore. Man muss schon fragen, was die Politik gegen das Rauchen unternimmt. Und wie sie Menschen hilft, die versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, und dabei scheitern.

Das zweite Beispiel?

Das zweite Beispiel ist Gebärmutterhalskrebs. Diese Erkrankung wird fast ausschließlich durch HPV-Viren verursacht. Doch die Impfquote ist viel zu niedrig: Nur rund 54 Prozent der Mädchen im Alter von 15 Jahren sind geimpft, von den Jungen im gleichen Alter nur 34 Prozent. Das ist viel zu niedrig. Unser Ziel müssen 100 Prozent sein. Andere europäische Länder erreichen bei 15-jährigen Mädchen schon seit dem Jahr 2015 Impfquoten von über 70 Prozent.

Ihr Vorschlag für eine bessere Krebsvorsorge?

Krebsvorsorge muss schon im Kindergarten mit Sonnencreme beginnen, und wir müssen in den Schulen die Kinder über gesunden Lebenswandel und die Gefahren von Übergewicht, Rauchen, Bewegungsmangel und so weiter aufklären. So wie wir das vom Krebszentrum CCC München mit der Aktion „CCC macht Schule“ bereits machen. Hier gibt es noch viel zu tun!

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