INTERVIEW

„Es bleibt eine offene Wunde“

von Redaktion

Charlotte Knobloch (92) erklärt, was das Ende der NS-Täter-Verfolgung für Deutschland bedeutet

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, vor dem Panorama der Frauenkirche. © Schlaf

München – Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern spielt seit der Gründung der Bundesrepublik eine zentrale Rolle in der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Was sich mit dem Ende der „Nazi-Jagd“ verändern wird, erklärt Charlotte Knobloch (92), Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG).

Was bedeutet das Ende der NS-Täter-Verfolgung für die Erinnerungskultur?

Die Verfolgung hält ja nach wie vor an. Aber natürlich kommt sie schlicht aufgrund des Alters möglicher Täter an ihre Grenzen. Das bedeutet für die Erinnerungskultur, dass es auf der Täterseite diejenigen nicht mehr gibt, die aus eigener Anschauung erzählen könnten. Allerdings wollten sich die meisten auch in jüngerem Alter nicht erinnern und von ihren Taten erzählen. Leider ist diese Seite der Erinnerungskultur ziemlich unterentwickelt. Die ausführlichen Berichte sind den Überlebenden zu verdanken, die als Zeitzeugen ihre fürchterlichen Erlebnisse erzählt haben und vor allem auch mit den jungen Leuten darüber gesprochen haben.

Endet damit eine Ära?

Es bedeutet auf jeden Fall einen Einschnitt, weil nun die Opfer und ihre Nachkommen kaum noch mit Verfahren und vor allem rechtskräftigen Urteilen rechnen können. Die juristische Aufarbeitung hat viel zu spät begonnen – und jetzt ist es in den meisten Fällen zu spät. Für die noch lebenden Zeitzeugen und die Nachkommen von Opfern und Überlebenden des Holocaust ist das extrem bitter. Es bleibt eine offene Wunde.

Wie blickt die jüdische Gemeinde auf diese Entwicklung?

Die jüdische Gemeinschaft kann das nur zur Kenntnis nehmen – den Gang der Zeit, das Altern möglicher Täter und ihr Sterben kann kein Mensch beeinflussen.

Seit Kriegsende wurden circa 6500 NS-Verbrecher verurteilt – sind Sie mit dieser Bilanz zufrieden?

Wie könnte man „zufrieden“ sein? Die Nazis haben allein sechs Millionen jüdische Menschen ermordet. Hinzu kommen abertausende Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Andersdenkende, Menschen mit Behinderung, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Zivilisten in den überfallenen Ländern. Schon einer wäre zu viel. Es geht um das singuläre Menschheitsverbrechen des Holocaust und einen monströsen Vernichtungskrieg – da werden immer nur Schmerz und Trauer sein.

Aber Recht und Gerechtigkeit durch eine rechtsstaatliche Justiz wären nicht nur für die Opfer und ihre Nachkommen, sondern für die ganze Gesellschaft wichtig. Die Prozesse und Urteile können unser Selbstverständnis als ein Land und eine Gesellschaft festigen, die ein solches Verbrechen nie wieder zulässt.

Leider zeigt das aktuelle politische Geschehen in eine andere Richtung, und viele Menschen wollen einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit ziehen. Das ist ein Anlass zu größter Sorge.

Viele KZ-Aufseher wurden erst im hohen Alter verurteilt und führten lange ein normales Leben – gab es dennoch Gerechtigkeit?

Recht und Gerechtigkeit sind ja zweierlei. In rein juristischer Hinsicht könnte man davon sprechen, dass spät Recht gesprochen wurde. Aber es bleibt eine einzige große Ungerechtigkeit, wenn man bedenkt, dass die Überlebenden ihr Leben lang von den Torturen und seelischen Qualen gezeichnet waren, dass viele, gerade im Alter, in Armut leben und von den Traumata der Vergangenheit eingeholt werden. Sie konnten nie ein „normales“ Leben führen – das haben ihnen die Nazis genommen.

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