„Diese Tat hätte nie geschehen dürfen“

von Redaktion

Der Tatort: das Isar-Amper-Klinikum in Haar. © Robert brouczek

Kamilla Nagy wurde in der Klinik erschlagen. © privat

Jayson L. vor Gericht: Er wurde verurteilt und wegen Schuldunfähigkeit dauerhaft psychiatrisch untergebracht. © SIGI JANTZ

Die Eltern Stefan und Eleonora Nagy sprachen Anfang Mai öffentlich über den Tod ihrer Tochter. © Yannick Thedens

Ihr keckes Lächeln, die liebevolle Art: Erinnerungen wie diese werden für immer bleiben. Andere verschwimmen mit der Zeit: Wie sich die letzte Umarmung angefühlt hat, der letzte Kuss, der letzte Blick.

Die Zeit? Sie heilt nicht immer Wunden. „Kamilla wird uns nie wieder anlächeln können“, sagen Eleonora und Stefan Nagy, Tränen laufen über ihre Gesichter. „Aber wir werden unsere Tochter immer in unseren Herzen tragen.“ In wenigen Tagen, wenn Kamillas Todestag sich zum dritten Mal jährt, wird der Schmerz wieder unerträglich sein. Weil mit den Erinnerungen die Trauer kommt. Und Fragen: Warum musste Kamilla sterben? Warum hat es niemand verhindert?

Es passiert am 31. Mai 2022. Ein Psychiatrie-Patient erschlägt die 40-Jährige im Isar-Amper-Klinikum Haar mit einer Eisenstange in ihrem Zimmer und steckt es danach in Brand. Eine Tat, so grausig wie verstörend. Vor allem, weil sie auf der geschlossenen Intensivstation geschieht. Wo Menschen, die wie Kamilla Nagy seelisch erkranken, nach akuter Heilung suchen – in einem geschützten Raum, betreut von Pflegern und Ärzten.

„Umstände sind bis heute nicht geklärt“

Wie ist das möglich? Im größten psychiatrischen Krankenhaus des ganzen Landes? „Die Umstände sind bis heute nicht geklärt“, kritisiert Anwältin Jella von Wiarda, die die Familie vertritt. Zwar wurde der Täter, Jayson L. (48), im Juli 2023 wegen Totschlags am Landgericht München I verurteilt und dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht, weil er als schuldunfähig gilt. Doch das Isar-Amper-Klinikum sei nie zur Verantwortung gezogen worden, sagt die Anwältin. Obwohl schon direkt nach der Tat Vorwürfe gegen Ärzte und Pfleger bekannt wurden.

Was auf der psychiatrischen Intensivstation vorfiel, rekonstruieren später die Richter am Landgericht: Zwischen 9 und 10 Uhr morgens reißt Jayson L. in seinem Patientenzimmer E.E.222 eine 35 Zentimeter lange Edelstahl-Duschstange samt der Muffe aus der Decke. Damit geht er in das unverschlossene Zimmer 223, wo sich Kamilla Nagy im Bad aufhält. Dort schlägt er ihr „mindestens zwei Dutzend Mal massiv auf den Kopf“ und erhängt sie mit ihrem Pullover. Danach baut er „einen Scheiterhaufen“, wie von Wiarda erklärt: Kleidung, Möbelstücke und die Matratze legt L. über die Leiche und steckt sie mit einem Feuerzeug in Brand. Die Flammen schlagen anderthalb Meter hoch. Das Stationspersonal habe die Tat gar nicht mitbekommen, sei erst durch den Rauchmelder alarmiert worden. „Der Großteil des Personals befand sich im Übergabegespräch im Stationszimmer“, sagt von Wiarda, „Es ist nicht aufgeklärt, wer oder ob sich währenddessen jemand um die Patienten gekümmert hat. Fest steht aber, dass reichlich Personal von Ärzten und Pflegern auf der Station war.“ Die Klinik will sich auf Anfrage nicht zu dem Fall äußern.

Doch fraglich bleibt: Wie konnte Jayson L. überhaupt in Kamillas Zimmer gelangen? Laut der Anwältin „spazierte er frei über die Stationsgänge“. Aus Sicht der Eltern, die ihre Tochter mehrfach vor Ort besucht hatten, „hätte diese Tat nie geschehen dürfen, wenn die Klinik ernst genommen hätte, wovor die Polizisten gewarnt haben“. Denn Jayson L. wurde erst am Tag vor der Tat zwangseingewiesen. Er hatte seinen Hund mit einer Schere getötet. Laut dem Münchner Gesundheitsreferat galt er als gefährlich. „Gegenüber der Polizei und später den Ärzten in Haar kündigte er mehrfach an, dass er auch noch einen Menschen töten müsse“, sagt von Wiarda. Auch im Urteil des Landgerichts ist von konkretem Vorsatz die Rede: „Der Beschuldigte wollte die Geschädigte töten“, stellten die Richter fest – und L. „erkannte trotz seines psychischen Zustandes die Lebensgefährlichkeit seiner Handlungen.“

Hätte die Tat verhindert werden können? Zwar ermittelte die Staatsanwaltschaft München I seit 2022, ob „ein strafrechtlich relevantes Unterlassen der behandelnden Ärzte oder des Pflegepersonals im Zusammenhang mit dem Tod der Geschädigten feststellbar ist“, das die Tat überhaupt erst „ermöglichte oder vereinfachte“. Jedoch konnte das „nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit festgestellt werden“, sagt Sprecherin Anne Leiding. Im Januar 2025 wurde das Verfahren eingestellt – trotz eines Gutachtens, das die Klinik schwer belastet.

„Eindeutige und gravierende Behandlungsfehler“ wirft Professor Karl Beine von der Universität Witten darin auf rund 65 Seiten dem Personal in Haar vor. Er ist Psychiater, war lange Jahre Chefarzt, gilt bundesweit als Fachexperte für Tötungsdelikte in Krankenhäusern. Beauftragt hatten ihn Kamillas Eltern. Doch seine Expertise akzeptierte die Staatsanwaltschaft nicht, die einem eigenen Gutachter vertraute und mehrere Zeugen zu dem Fall hörte.

Überrascht sind darüber auch medizinische Experten, die mit den Abläufen im Klinikum Haar gut vertraut sind. In Gesprächen, die unsere Zeitung zu dem Fall geführt hat, sind immer wieder große Irritationen zu hören über die Geschehnisse an dem Tag, an dem der gefährliche Mitpatient aufgenommen wurde. Das betrifft vor allem das Protokoll, das eine Stationsärztin nach der Aufnahme ausfüllte. Beines Gutachten zufolge verfügte sie lediglich, dass Jayson L. die Station nicht verlassen dürfe – obwohl der spätere Täter auf der Station herumschrie, um sich schlug und sogar auf Pfleger losging,

„Das ist brandgefährlich, riskanter kann es gar nicht sein“, sagt jemand, der den Alltag auf einer Psychiatrie gut kennt. Jayson L. hätte demnach mindestens im sogenannten geschützten Bereich untergebracht werden müssen, einem Zimmer, das ständig von einer Pflegekraft überwacht wird.

Beine geht in seinem Gutachten noch weiter und kommt zu dem Schluss, Jayson L. hätte „eine engmaschige persönliche Begleitung im Sinne einer 1:1-Betreuung“ zuteil werden müssen. Dazu kam es nicht, weil die Ärzte seinen Zustand „fehlerhaft beurteilt“ hätten, rügt er.

Aus Klinikkreisen heißt es zudem: Wie in allen Psychiatrien sei es Vorschrift, dass noch am Tag der Aufnahme ein Oberarzt den Patienten trifft und eine Einschätzung über die Maßnahmen abgibt. Auf dem entsprechenden ärztlichen Zeugnis unterschrieb jedoch nur ein Assistenzarzt, kritisiert Gutachter Karl Beine. Das Isar-Amper-Klinikum habe sich „gravierende Versäumnisse“ in allen Phasen geleistet.

Grüne im Landtag fordern Aufklärung

Auffällig zudem: Das Pflegepersonal ist verpflichtet, nach jeder Schicht den Zustand der Patienten zu dokumentieren. In Karl Beines Gutachten finden sich dazu aber keine Informationen. Ob die Unterlagen im Isar-Amper-Klinikum erstellt wurden und noch vorliegen? Auch dazu möchte sich in Haar niemand äußern – ebenso verwehrt der Bezirk Oberbayern als Aufsichtsbehörde jede Auskunft: „Aufgrund des laufenden Verfahrens.“

Denn bei der Generalstaatsanwaltschaft hatten Eleonora und Stefan Nagy Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen eingelegt – die Behörde lehnte sie ab und verwies auf einen „schicksalhaften Verlauf“ im Fall Kamilla. „Wir haben den Eindruck, dass die Justiz den Fall unter den Teppich kehren will“, sagen die Eltern.

Sie zogen weiter zum Oberlandesgericht, leiteten dort ein Klageerzwingungsverfahren ein – juristisch die letzte Chance „auf Gerechtigkeit“, sagt Anwältin von Wiarda. Und auch formell eine Besonderheit: Denn hier kann das Gericht das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft durchbrechen, wie Sprecher Laurent Lafleur erklärt. Am 29. April seien die Akten angefordert und die Generalstaatsanwaltschaft „um Stellungnahme gebeten“ worden. Geprüft werde, „ob ein hinreichender Tatverdacht besteht, ob also aus der Akte hervorgeht, dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung höher ist als die eines Freispruchs“. Kommt das Gericht zu diesem Ergebnis, „beschließt es die Erhebung der öffentlichen Klage“. Und der Fall wird neu aufgerollt – was in der Praxis selten vorkommt, aber Kamillas Familie Hoffnung gibt.

Mittlerweile wird der Fall auch zum Politikum: Denn die Landtagstagfraktion der Grünen hat am 20. Mai eine Anfrage an die Bayerische Staatsregierung gestellt, mit der sie Antworten zu den Umständen der Tötung und der Verantwortung des Isar-Amper-Klinikums in Haar erzwingen will.

Professor Peter Brieger ist dort seit 2016 ärztlicher Direktor und war zum Zeitpunkt des Todes von Kamilla Nagy auch Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie, zu der die Intensivstation zählte. Welche Verantwortung trifft ihn? „Der Laden ist zu groß, man kann nicht jede Station engmaschig kontrollieren“, sagt jemand, der die Strukturen im Haus kennt. Dennoch spreche Brieger Probleme an, wenn er davon erfahre – Schwierigkeiten müsse es folglich in der Vorbeugung gegeben haben. „Letztverantwortlich“, wie es in Medizinerkreisen heißt, sei Brieger beim Tod von Kamilla jedoch selbst gewesen – in seiner Rolle als damaliger Chefarzt. Den Posten gab Brieger wenige Monate nach dem Vorfall ab.

Aus der Klinik ist zu hören, unter Brieger habe sich in Haar eine Kultur etabliert, Fehler eher unter Verschluss zu halten, statt offen damit umzugehen. Das gelte für die Kommunikation nach außen als auch innerhalb des Hauses. Bei der Aufarbeitung von Vorfällen wie dem Tod von Kamilla Nagy werde der Geheimhaltung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Selbst in den benachbarten Stationen sei in solchen Fällen nur das Nötigste zu erfahren.

Unbequem dürfte der Fall Kamilla Nagy für den ärztlichen Direktor auch sein, weil das Klinikum Haar dieses Jahr ein Jubiläum unerwartet groß feiert: Das Haus wurde vor 120 Jahren gegründet. Geplant ist ein Festakt am 17. Juli mit 300 geladenen Gästen am St.-Jakobs-Platz in München.

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