6. April 2022: Ukrainische Soldaten in den Straßen des zerstörten Butscha. Die Russen haben sich zurückgezogen. © imago
Der Friedhof für gefallene ukrainische Soldaten in Butscha. Fotos auf den Grabsteinen halten die Erinnerung wach. © Balk
Ein Hund wartet neben seinem getöteten Herrchen. Das Foto aus Butscha von Vojtech Darvik Maca wurde in Tschechien 2022 Pressefoto des Jahres.
Bilder, die kaum auszuhalten sind: Anatolii Fedoruk, Bürgermeister von Butscha (re.), zeigt Landtagspräsidentin Ilse Aigner und ihren Vizes Markus Rinderspacher (li.) und Tobias Reiß (2.v.r.) Fotos von den russischen Gräueltaten im Frühjahr 2022, die in der Kirche ausgestellt sind. © Balk/Landtag
Die Gedenkstätte vor der Kirche: Über 500 Namen sind hier auf Tafeln verewigt. Die meisten Opfer wurden exekutiert. © Matthias Balk
Sie schießen russische Drohnen ab: Ilse Aigner bei den „Hexen von Butscha“, die die Stadt beschützen sollen. © Matthias Balk
Butscha – Anatolii Fedoruk sieht nicht aus wie ein Mann, den die Stürme des Lebens so einfach umblasen. Er ist eher klein gewachsen, aber robust, trägt Dreitagebart und spricht mit tiefer, brummiger Stimme. Doch die kann brüchig werden, wenn er auf das Frühjahr 2022 zu sprechen kommt. Zur Landtagspräsidentin Ilse Aigner, die für einen Tag in die Ukraine gereist ist, sagt er: „Es ist schade, dass Sie meine Stadt unter diesen Umständen kennenlernen.“
Vermutlich hat er den Satz schon häufig ausgesprochen. Fedoruk ist Bürgermeister der 50 000-Einwohner-Stadt Butscha. Am Rande der Millionenmetropole Kiew gelegen, mit schmucker Architektur und einem schönen See in der Nähe eigentlich eine gute Wohnlage, doch der Name Butscha steht für etwas anderes: für das denkbar schlimmste Grauen dieses ohnehin grauenvollen Krieges.
Auf dem Weg Richtung Kiew nahmen russische Truppen den Vorort, der wegen eines nahen Flugplatzes strategisch wichtig war, in den allerersten Kriegstagen ein. Als sie einen Monat später zurückgedrängt wurden, hinterließen sie umfassende Zerstörung, vor allem aber gezielte Vernichtung. Offiziell nennt die Ukraine die Zahl von 516 Zivilisten, die in Butscha exekutiert wurden.
Niederste Instinkte müssen sich damals Bahn gebrochen haben, im Gefühl völliger Straffreiheit. Die Russen hätten „eine Safari auf Zivilisten“ veranstaltet, sagte später Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. Hunderte Tote wiesen Einschüsse am Hinterkopf auf, etliche waren gefesselt. 95 Prozent der Leichen hatten Folterspuren, sagt Fedoruk. Die russische Taktik, durch grenzenlose Brutalität die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, ist nirgendwo so schaurig belegt wie hier. Videos mit den Stimmen fassungsloser ukrainischer Soldaten, die als Erste nach Butscha kamen, gingen um die Welt.
Dreieinhalb Jahre ist es her, doch der Schmerz ist noch sichtbar. Auf einer Grünfläche vor der St.-Andreas-Kirche hat die Stadt eine Gedenkstätte errichten lassen. An dieser Stelle wurden im März 2022 zwei Massengräber mit insgesamt 116 Leichen gefunden. Jede einzelne haben Fedoruk und seine Leute identifiziert. „In Orten wie hier kennt man sich“, sagt der Bürgermeister.
Hunderte kamen noch hinzu. Am Ende waren es so viele Tote, dass nicht mal mehr die Zeit blieb, die Leichen in Plastiksäcken zu verpacken. Sie vergruben sie, um zu verhindern, dass streunende Hunde auf sie aufmerksam wurden.
Man darf nicht zartbesaitet sein, wenn man die Gedenkstätte mit den über 500 Namensschildern besucht. Wirklich schlimm wird es aber erst im Innern der Kirche, wo eine Dauerausstellung den Horror festhält. 35 Bilder, viele so drastisch, dass es kaum auszuhalten ist. Ein Kran, der eine Palette mit einer Leiche anhebt, bei der der linke Arm unter der Plane hervorragt. Ein Hund, der neben der Leiche seines Herrchens trauert, der vom Fahrrad geschossen wurde. Es gibt Bilder von verkohlten Körpern, abgetrennten Gliedmaßen, gefesselten Händen mit blutunterlaufenen Fingernägeln. Die ganze Monstrosität des russischen Angriffskriegs offenbart sich hier im Kleinformat.
Ilse Aigner lässt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen, doch als sie die Gedenkstätte verlässt, ist sie sehr still. „Das ist mir zutiefst unter die Haut gegangen.“ Wenn man die Bilder als Inszenierung und Propaganda abtue, wie es die Russen beharrlich versucht haben, „dann ist das einfach perfide“.
Aigner hatte längst in die Ukraine reisen wollen, die Einladung einer deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe stand seit Jahren. Doch dann kam die Pandemie dazwischen – und anschließend der Krieg. Nun besucht sie mit ihren Vizes Tobias Reiß (CSU) und Markus Rinderspacher (SPD) das Land. Die Themen sind jetzt andere. Es geht um bayerische Hilfen für ukrainische Kriegsversehrte, traumatisierte Kinder, politische Kooperationen. Der stellvertretende Parlamentspräsident regt eine Partnerschaft mit dem Freistaat an, im Außenministerium will der stellvertretende Ressortchef lieber über Waffen reden. Dass Taurus-Marschflugkörper weiterhin kein Thema sein werden, scheint die Ukraine mittlerweile zu akzeptieren. Die neue deutsche Haltung, innerhalb der Ukraine die Waffenproduktion zu forcieren, stößt auf wachsenden Zuspruch.
■ Jeder Tote hier hat seine Geschichte
Doch die prägnantesten Eindrücke der Reise bleiben die in Butscha. „Die werden mich noch beschäftigen“, sagt Aigner am Abend. Jeder Tote hat hier seine Geschichte. Auf dem Friedhof stehen viele frische Grabsteine. Auf einem ist das Bild eines jungen Mannes mit seinem Hund eingraviert, auf einem anderen ein Mann mit seinem Maschinengewehr. Fast alle Steine schmücken große Fotos. Anatolii Fedoruk bleibt vor einem Bild stehen, das einen älteren Herrn zeigt. „Das Gespenst von Kiew“ nennt er ihn. Ein pensionierter Oberst und Militärflieger, der im Ruhestand seine Heimat verteidigte. Am Ende wurde er abgeschossen bei der Befreiung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer, noch so ein berühmter Ort des Krieges.
In Butscha halten sie ihre Helden in Ehren, auch die lebenden. Fünf Autominuten vom Friedhof entfernt stellt der Bürgermeister die „Hexen von Butscha“ vor. Freiwillige, die Drohnen vom Himmel schießen, die vor allem in den Nachtstunden die Ukraine heimsuchen. Die allermeisten sind Frauen. Eine Mutter von drei Kindern ist dabei, deren Ehemann an der Front gefallen ist. Als Fedoruk erscheint, stehen sie alle stramm vor ihren Pickups, auf deren Ladeflächen Waffen montiert sind.
Viele Worte braucht es hier nicht. Am Ende applaudieren Aigner und ihre Präsidiumskollegen der Gruppe, die winkt zum Abschied. Dann macht sie sich bereit für ihre Nachtschicht. Als in Kiew der Zug der Besucher Richtung Polen fast schon anrollt, ertönt der erste Drohnenalarm des Abends.