69 militärische Stützpunkte gibt es in der Arktis, hier ein russischer auf der Insel Alexandraland. © MAXIME POPOV/Getty Images
So idyllisch wie auf diesem Foto geht es in der Arktis nicht mehr zu. Das Eis schmilzt und die Anrainer denken bereits darüber nach, wie man daraus Profit schlagen kann. © Getty Images
München – Von den Ressourcen der Arktis wussten die Anrainer seit jeher zu profitieren. Der russische Reichtum, sagt Volker Rachold (60), Leiter des Deutschen Arktisbüros am renommierten Alfred-Wegener-Institut (AWI), stamme zu wesentlichen Teilen aus den arktischen Öl- und Gasvorkommen. Auch Erz wird in großem Stil abgebaut, etwa bei Norilsk (Russland) und Kiruna (Schweden). Nun versprechen schrumpfende Gletscher und schmelzendes Meereis den Zugriff auf Schätze, deren Ausbeutung bisher unmöglich oder unwirtschaftlich war. Das betrifft Öl und Gas ebenso wie das Elixier der Zukunft: seltene Erden, die zur Produktion von Handys, Elektromotoren und Batterien gebraucht werden.
Dabei gilt, so Rachold: „Die Arktis ist kein Niemandsland.“ Die Bodenschätze gehörten den acht Anrainerstaaten Königreich Dänemark (Grönland), Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und USA – wobei von diesen Staaten nur fünf direkte Anrainerstaaten sind (siehe Grafik). Island, Finnland und Schweden sind aber so nah dran, dass sie auch permanente Mitglieder im Arktischen Rat sind und Ansprüche haben. „Diese Staaten können selbst entscheiden, was sie mit den Ressourcen machen, die auf ihrem Territorium liegen.“ Gemäß dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen könne dieses Territorium über die 200-Meilen-Zone in den Ozean hinaus erweitert werden, „wenn man nachweisen kann, dass der Meeresboden darüber hinaus zum Festland gehört.“ Das ist nicht immer eindeutig. So erheben derzeit Dänemark, Kanada und Russland Anspruch auf den Nordpol.
Lange Jahre schien es, als ob Konflikte im Arktischen Rat friedlich gelöst werden könnten. Die Anrainerstaaten hatten den Rat 1996 gegründet, um zum Interessenausgleich mit den indigenen Völkern der Region beizutragen. Auch Klimaschutz und die Koordination von Forschungsprojekten und Entwicklungsvorhaben gehören zu seinen Aufgaben. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine kam die Arbeit zunächst zum Erliegen. Inzwischen gibt es wieder virtuelle Treffen der Arbeitsgruppen – mit russischer Beteiligung.
Mit Sorge beobachtet Rachold, dass nach dem ökologischen nun auch das politische Gleichgewicht der Arktis in Gefahr ist. „Bisher haben sich alle an die Gesetze und Abkommen zur Arktis gehalten“, sagt der Geochemiker. „Aber wenn man sieht, was Russland in der Ukraine tut und wie sich US-Präsident Trump gegenüber Grönland verhält, hat man schon Bedenken, wie lange das so bleiben wird.“
Die Bundesrepublik, einer von 13 Staaten mit Beobachterstatus im Arktischen Rat und dort nicht zuletzt wegen der Forschungsarbeit des Alfred-Wegener-Instituts hoch angesehen, teilt diese Sorge. In den 2024 überarbeiteten „Leitlinien deutscher Arktispolitik“ spielen sicherheitspolitische Erwägungen eine deutlich größere Rolle als noch 2019. Die Arktis wird nun als „Arena geopolitischer Spannungen“ gesehen, die militärische Präsenz Russlands und Chinas klar thematisiert. Denn neben Russland, zu dessen Territorium mit gut 24 000 Kilometern mehr als die Hälfte der arktischen Küstenlinie gehört, sieht sich auch China, von der Arktis etwa so weit entfernt wie Deutschland, als „arktisnaher Staat“. Das Reich der Mitte ist ebenfalls als Beobachter im Arktischen Rat vertreten und will erklärtermaßen „arktische Großmacht“ werden.
Nach Jahren der Entspannung verstärken die Anrainer ihre Militärpräsenz. Laut der Simons Foundation Canada gibt es in der Arktisregion 69 ständig besetzte Militärstützpunkte, davon allein 32 von Russland und zehn von den USA, darunter die Thule Air Base auf Grönland. „Die Arktis ist strategisch gesehen extrem wichtig“, sagt Rachold. Dass Trump so scharf auf Grönland sei, liege nicht nur an Ressourcen, sondern auch an der strategischen Lage zu Russland. Der Klimawandel verschärft die Situation: Dort, wo sich die beiden Großmächte am nächsten sind, werden die Grenzen durch den Rückgang des Eises verwundbarer. Dass es über kurz oder lang zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt, glaubt Arktis-Spezialist Rachold nicht. „Aber das Säbelrasseln ist unüberhörbar.“
Das Hauptaugenmerk der weltweiten Wissenschaft gilt weiterhin dem Klimawandel im Ökosystem Arktis. Was sich dort abspielt, treibt den Forschern Sorgenfalten auf die Stirn. Die Arktis, die für das europäische Klima eine wesentliche Rolle spielt, erwärmt sich viermal so schnell wie der Rest der Erde. Manche Prozesse verstärken sich permanent selbst. So reflektiert eine schrumpfende Meereisfläche immer weniger Sonnenlicht zurück ins All. Die wachsende dunkle Ozeanfläche hingegen absorbiert die Energie. Das Wasser heizt sich auf, das Eis schmilzt noch schneller. An Land setzt auftauender Permafrost-Boden im Saldo Kohlendioxid frei, was den Treibhauseffekt verstärkt.
Die internationale Forschung hat sich nach dem Stopp der Kooperation mit russischen Institutionen neu formiert und arbeitet fieberhaft daran, die letzten Lücken im Verständnis der komplexen Systeme zu schließen. Doch darüber, wie viel die Erkenntnisse bewirken, macht sich Ernüchterung breit: Das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens ist bereits verfehlt, zu erwarten ist laut Rachold bis zum Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung von 2,7 Grad. Die Leugnung des menschgemachten Klimawandels im Trump-Lager und der Austritt der USA aus dem Klimaabkommen seien weitere Rückschläge. „Und wenn ich mir unseren Koalitionsvertrag ansehe, dann habe ich auch Zweifel, ob Klimaschutz hier höchste Priorität hat“, so der Wissenschaftler.
Eines immerhin macht Mut: Auch wenn die offiziellen Kontakte zu russischen Forschungsinstitutionen gekappt wurden, bestünden die über Jahrzehnte gewachsenen persönlichen Beziehungen weiter, sagt Rachold. „Ich denke sogar, das ist erwünscht, weil man nicht alle Brücken abbrechen möchte“. Womöglich wird es also wie im Kalten Krieg die internationale Forschungsgemeinde sein, die im Notfall einen Gesprächskanal offen hält, der hilft, die Welt zu retten.