Mit Feldspritze durchs Getreidefeld: Der Einsatz von Pestiziden soll Ernteausfälle möglichst minimieren. Für die Landwirte ist das nicht ohne Risiko. © IMAGO
Diese Länder setzten 2022 die meisten Pestizide ein. MM/UN
Landwirt Hubert Roßkothen leidet an Parkinson. © Wochinger
Niedertaufkirchen – Hubert Roßkothen geht gebückt, seine wuchtigen Hände hat er in den Jackentaschen. „Das Problem bei mir ist der Kopf“, sagt der 62-Jährige. Er hat Gedächtnisstörungen, findet oft nicht die richtigen Worte. „Ich bin einfach nicht mehr so leistungsfähig. Wenn ich zum Beispiel einen Antrag ausfülle, werde ich plötzlich nervös und fange an zu schwitzen.“ Jahrzehntelang hat der Landwirt aus dem oberbayerischen Niedertaufkirchen (Kreis Mühldorf am Inn) einen Milchviehbetrieb geführt. Jetzt kann er höchstens noch ein paar Stunden im Traktor sitzen – mehr geht nicht mit seiner unheilbaren Nervenkrankheit. Roßkothen leidet an Parkinson, wohl ausgelöst durch Pflanzenschutzmittel.
Morbus Parkinson ist die am schnellsten wachsende neurologische Erkrankung der Welt. Hierzulande sind rund 400 000 Menschen betroffen. Bei Parkinson sterben immer mehr Nervenzellen im Gehirn ab, die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskel wird dadurch gestört. Die Ursachen dafür sind bis heute nicht vollständig geklärt. Typische Symptome sind Bewegungsstörungen, Muskelsteifheit und Zittern.
Früher bewirtschaftete Landwirtschaftsmeister Roßkothen 80 Hektar Acker und Wiesen, im Stall standen 120 Milchkühe. Und er sprühte stundenlang Pestizide auf seine Felder. „Atrazin gegen die Unkräuter im Maisfeld, E605 gegen Insekten – wie das Fungizid geheißen hat, weiß ich nicht mehr“, sagt er. Das sind Giftstoffe, die mittlerweile in Deutschland verboten sind. Außerhalb der EU jedoch sind die Stoffe teils weiterhin erlaubt.
Pestizide sind wichtig für den Pflanzenbau, sie töten Unkräuter, Schädlinge und Pilze. „Ohne ihren Einsatz würden die Erträge massiv einbrechen, Krankheiten und Schädlinge sich ausbreiten“, teilt der Bayerische Bauernverband mit. Dies führe, je nach Witterung, zu Missernten. Für die Landwirte ist der Einsatz eine enorme Erleichterung. Aber er birgt Risiken. Pestizide gefährden die Artenvielfalt und belasten das Grundwasser. Und sie sind gefährlich für den Menschen.
Viele Landwirte versuchen, weniger Pestizide auszubringen. Tausende verzichten möglichst ganz darauf. Nach Zahlen des Bauernverbands gibt es knapp 11 000 Ökobetriebe in Bayern – von insgesamt mehr als 81 500 landwirtschaftlichen Betrieben. Sowohl Bund als auch Freistaat verfolgen das Ziel, bis zum Jahr 2030 mindestens 30 Prozent der Flächen ökologisch zu bewirtschaften. Doch noch immer werden jedes Jahr zehntausende Tonnen Pestizide auf die Felder in Deutschland gesprüht.
Parkinson-Patient Roßkothen sagt, er habe nie mit dem Gedanken gespielt, dass die Pestizide schädlich für ihn sein könnten. Schutzkleidung trug er damals nicht – und einen Traktor mit Schutzkabine hatte er auch nicht. Ein Mal sei er nach dem Spritzen zu seiner Frau in die Küche gekommen, erzählt er. „Die hat mich ganz komisch angesehen und gesagt: Wie schaust denn du aus? Ich habe mich dann im Spiegel angeschaut. Ich war ganz gelb, von oben bis unten.“
Inzwischen weiß man: Bestimmte Pflanzenschutzmittel können die Gefahr einer Parkinson-Erkrankung deutlich erhöhen: Das Risiko hängt laut Forschern von der Dauer und Stärke der Exposition mit Pestiziden ab, aber auch individuelle, genetische Faktoren der Betroffenen spielen eine Rolle. Bei Wirkstoffen wie Paraquat oder Rotenon konnte ein kausaler Zusammenhang zu Parkinson nachgewiesen werden; andere Substanzen müssen noch weiter erforscht werden.
Dennoch hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat im März 2024 eine folgenschwere Empfehlung ausgesprochen: „Parkinson-Syndrom durch Pestizide“ soll in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen werden. Hinweise auf ein „besonders ausgeprägtes“ Erkrankungsrisiko liege demnach auch für den Wirkstoff Atrazin vor. Das ist der Stoff, den auch Landwirt Roßkothen auf seine Felder sprühte.
Mit der Empfehlung der Expertenkommission gibt es nun eine einheitliche Grundlage für den Umgang mit der Krankheit: Betroffene Landwirte können bessere Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Anspruch nehmen. Dazu gehören eine längere Physiotherapie oder eine Erwerbsminderungsrente. Auch Krankheiten wie Borreliose, die durch Zecken übertragen wird, oder allergische Atemwegserkrankungen im Zusammenhang mit Tierhaaren sind als Berufskrankheiten anerkannt.
Die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau prüft derzeit den Fall von Roßkothen – wie rund 3000 weitere Fälle betroffener Landwirte. Weil man nicht weiß, wie hoch die Behandlungs- und Folgekosten für die Versicherung sein werden, wurde vergangenes Jahr eine Sonderrückstellung von 100 Millionen Euro beschlossen. Die Kosten tragen die Landwirte: Im Sommer 2024 wurden die Bescheide an die 1,4 Millionen Mitglieder verschickt.
„Bei den Bauern haben die Kosten ganz schön eingeschlagen“, sagt Bernd Schmitz von der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft (AbL). „Teils ist der Beitrag der Sozialversicherung bei den Bauern um 20 Prozent gestiegen.“ Es sei ungerecht, diese Ausgaben auf alle Landwirte umzulegen. „Reine Grünlandbetriebe und ganz besonders Bio-Betriebe müssen damit Kosten tragen, die sie nicht verursacht haben.“
Die AbL hat ihre Mitglieder zum Widerspruch gegen die Beitragsbescheide aufgerufen. Die betroffenen Bauern hätten „im guten Glauben“ die Pestizide angewendet. Weder Hersteller noch Zulassungsbehörden hätten auf mögliche Gefahren für eine Parkinson-Krankheit hingewiesen, sagt Schmitz. Er will deshalb, dass die Sozialversicherung die Agrarchemie und die Zulassungsbehörden zur Kasse bittet. „Die Pestizidindustrie privatisiert die Gewinne und vergemeinschaftet die Folgeschäden. Das ist nicht zu akzeptieren.“ Mit der Meinung steht Schmitz nicht alleine da: Rund 2300 Landwirte sind seinem Aufruf zum Widerspruch gefolgt.
Die Agrarchemie verdient Milliarden mit dem Verkauf von Pestiziden. Doch der Industrieverband Agrar (IVA) teilt auf Nachfrage mit, dass es nicht nachzuvollziehen sei, warum Hersteller von Pestiziden Kosten übernehmen sollen, für die es „im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung ein Finanzierungssystem“ gebe. „Dass Unternehmen einer Branche kollektiv für mögliche gesundheitliche Folgen behördlich zugelassener Produkte haften sollen, ist im deutschen Recht systemfremd“, so ein Verbandssprecher.
Hubert Roßkothen ist wütend auf die Industrie – und ein Stück weit auch auf sich selbst. „Natürlich hätte ich mich besser schützen müssen. Aber man wurde damals einfach nicht über die Gefahren aufgeklärt.“ Mit den Pestizidherstellern will er sich nicht anlegen, das sei ein Kampf gegen Windmühlen, sagt er. „Das Einzige, was wirklich hilft, ist weniger Pflanzenschutzmittel einzusetzen.“ Deshalb hat er seinen Betrieb vor vielen Jahren auf biologische Landwirtschaft umgestellt.