Seit Jahrhunderten wetten die Menschen auf den Papst. Hier der neue, Leo XIV. © dpa
Kehrt Jesus heuer zurück? Spekulanten sehen die Chance immerhin bei zwei Prozent.
300 000 Dollar sind im Topf: Verloben sich Taylor Swift und Travis Kelce dieses Jahr? © AFP
Ist das ein Anzug oder nicht? Im Internet gibt es einen heftigen Streit über die Garderobe von Selenskyj beim Nato-Gipfel in Den Haag. Es geht dabei um 237 Millionen Dollar. © dpa/afp/pa
München – Es war ein ungewöhnliches Bild. Als Wolodymyr Selenskyj Ende Juni zum Nato-Gipfel in Den Haag anreiste, trug er mal kein Militärgrün, sondern Jackett, Hemd und schwarze Hose. Im Netz brach sogleich ein bizarrer Streit aus. War das nun ein Anzug oder nicht? Eine scheinbar banale Frage, doch die Antwort darauf ist bares Geld wert. 237 Millionen Dollar, um genau zu sein: So viel haben Menschen auf der ganzen Welt auf Selenskyjs Garderobe gesetzt.
Polymarket ist eine Online-Wettbörse für alles Mögliche: Hier wird aufs Weltgeschehen spekuliert, auf Politik, Krieg, Popkultur, Sport. Und auf die Frage, ob der ukrainische Präsident noch vor Juli einen Anzug tragen würde. Immerhin hatte Selenskyj noch beim Eklat im Weißen Haus Anfang des Jahres behauptet, das werde erst nach Kriegsende passieren. Monatelang verfolgten die Zocker jedes Auftreten des Präsidenten – bis er kurz vor Fristende mit Sakko in Den Haag erschien. Nun wird auf Polymarket gefeilscht: Zählt das als Anzug? Darf man dazu Tennisschuhe tragen? Der Millionengewinn hängt bis zu einer Entscheidung in der Luft.
Schwarmintelligenz oft nah an der Realität
Mit kuriosen Wetten lässt sich auf Prediction Markets, (Prognose- oder Vorhersagemärkte) viel Geld verdienen. Wer an den Börsen handelt, verfolgt schon lange genau, was Elon Musk postet: Vor einigen Jahren ließ er den Bitcoin mit einem Tweet um zehn Prozent abstürzen. Inzwischen verfolgen Anleger aber nicht nur, was der Tech-Milliardär von sich gibt – sondern auch, wie oft. Bei der Frage, wie häufig er innerhalb von einer Woche twittern wird, galt zuletzt eine Zahl zwischen 180 und 194 als wahrscheinlichste. Im Topf: fast drei Millionen Dollar.
Die Schwarmintelligenz ist mit ihren Einschätzungen oft erstaunlich genau. Bei der US-Wahl zum Beispiel erlangte Polymarket weltweit Aufmerksamkeit. Während Demoskopen bis zuletzt ein knappes Rennen zwischen Donald Trump und Kamala Harris vorhersagten, lagen die Spekulanten überraschend nah am Ergebnis: In der letzten Woche vor der Wahl bezifferte Polymarket Trumps Siegchancen auf rund 60 Prozent. Ähnlich bei der Bundestagswahl: Bereits Anfang Januar waren sich 92 Prozent der Zocker sicher, dass Friedrich Merz Bundeskanzler wird. SPD und Grüne bekamen kaum eine Chance aufs Kanzleramt – und die AfD wurde auf Polymarket mit einer Wahrscheinlichkeit von 78 Prozent als zweitstärkste Kraft vorhergesagt.
Das Konzept ist einfach: Wer auf Polymarket zocken will, registriert sich mit seiner E-Mail-Adresse, tauscht Euro in die Kryptowährung USD Coin um (deren Wert ist an den Dollar gekoppelt) und kann sofort loslegen. Die meisten Fragen lassen sich mit Ja oder Nein beantworten. Wird der Streit zwischen Trump und Musk so eskalieren, dass der US-Präsident den Südafrikaner noch dieses Jahr des Landes verweist? Eher nicht – die Wahrscheinlichkeit liegt bei fünf Prozent. Wer trotzdem 100 Dollar auf „Ja“ setzt und Recht behält, kassiert rund 2000 Dollar. Kommt es noch vor August zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas? Die Quote schwankt im Minutentakt. Wird der nächste James Bond ein Brite sein? Laut Markt unwahrscheinlich. Wird die AfD 2025 verboten? Polymarket sagt: Die Chancen stehen bei drei Prozent. Eine neue Vogelgrippe-Pandemie? Nur ein Prozent – was man wohl beruhigend nennen darf.
Wetten auf Politik sind bei uns verboten
Moritz L. studiert Wirtschaftsinformatik an der TU München und wettet regelmäßig auf Vorhersagemärkten – allerdings nicht um echtes Geld. Weil Wetten auf politische Ereignisse in Deutschland verboten sind, setzt der 22-Jährige ein Spielgeld namens Mana auf der Plattform Manifold Markets. „Ich bin vor etwa einem Jahr per Zufall auf die Webseite gestoßen“, erzählt er, „und fand es spannend zu sehen, wie andere Menschen auf das Weltgeschehen blicken.“ Derzeit spekuliert der Münchner beispielsweise darauf, dass Deutschland den Marschflugkörper Taurus an die Ukraine liefert, bevor Russland einen Nato-Staat angreift. „Es ist wirklich interessant, wie Nachrichten die Wahrscheinlichkeiten beeinflussen: Die Kurse verändern sich sofort, wenn zum Beispiel Putin oder Merz etwas von sich geben.“
Um Geld zu wetten, hätte für Moritz L. einen bitteren Beigeschmack. „Im Prinzip könnte man das Ganze mit Sportwetten vergleichen. Aber ich finde, es ist ein großer Unterschied, ob man sein Geld mit dem nächsten Sieg des FC Bayern verdient – oder damit, ob der Iran demnächst Israel angreifen wird.“ Für ihn ist das mehr wie ein Spiel: Alle zwei bis drei Tage wirft er einen Blick auf die Online-Märkte, meist einfach aus Neugier, wie und warum sich die Statistiken verändert haben. „Einmal habe ich selbst einen Markt eröffnet, da ging es um mein Auslandssemester in Kalifornien: Ich habe die Frage gestellt, ob ich dort ein Erdbeben miterleben werde“, erzählt der Student. „Plötzlich haben zehn bis 15 Leute regelmäßig die Tsunami-Warnungen im Pazifik verfolgt und ihre Einsätze daran angepasst. Das war schon skurril.“
Andreas Graefe ist Experte für „Forecasting“ (Vorhersagen) an der Hochschule Macromedia in München. „Wettbörsen wie Polymarket sind keine Wundermethode, um die Zukunft vorherzusagen“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler. „Vorhersagen funktionieren unter zwei Bedingungen besonders gut: Erstens muss es sich um liquide Märkte handeln – es müssen also genug Leute mitmachen.“
„Manipulation ist Tür und Tor geöffnet“
Bei Polymarket, wo Nutzer Millionenbeträge einzahlen, sei das der Fall, bei kleineren Plattformen wie Manifold weniger. „Zweitens: Die Menschen müssen sich gut informiert haben. Und daran scheitern die Märkte auf Polymarket oft.“ Bei der streng geheimen Papstwahl hätten alle Prognosen komplett daneben gelegen. „Auf den Papst wird übrigens schon seit Jahrhunderten gewettet. Das Konzept der Vorhersagemärkte ist also nicht ganz neu.“
Polymarket selbst schon: Die Plattform wurde 2020 vom damals 21-jährigen US-Amerikaner Shayne Coplan gegründet. Größere Aufmerksamkeit erlangte sie drei Jahre später, als eine Wette zum U-Boot „Titan“ viral ging: 90 Minuten nach dem Start der Erkundungstour zum Wrack der „Titanic“ implodierte das Tauchboot, alle fünf Insassen starben. Bei der Wette ging es allerdings nicht um das Schicksal der Passagiere, sondern darum, ob das Wrack bis zu einem bestimmten Datum gefunden wird.
Polymarket war während der US-Präsidentschaftswahl die meist geladene kostenlose App im Apple Store. Dabei ist die Plattform streng genommen in den USA verboten – sowie auch in Frankreich, Singapur, Thailand und Belgien. Doch bislang gibt es kaum Mechanismen, um Nutzer von der Plattform fernzuhalten. „Bei Polymarket sind für Manipulation Tür und Tor geöffnet“, sagt Graefe. „Wer Insiderwissen hat, kann den Markt sehr einfach verzerren. Und wer kontrolliert, ob Selenskyj einen Anzug getragen hat, oder nicht?“ Es sei auch viel Schmarrn dabei: Etwa, ob Jesus 2025 zurückkehrt. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei zwei Prozent.