Spuren der Verwüstung: Bewohner von Taybeh begutachten ein verbranntes Auto. © EPA
Unter Schock: Katholische Nonnen vor der Kirchenruine St. Georg in Taybeh, wo die Siedler Feuer gelegt hatten. © AFP
Religiös und radikal: Maskierte israelische Siedler werfen Steine auf palästinensische Dorfbewohner. © Ilia Yefimovich/dpa; Grafik: mm/dpa
München – Sie kamen in der Nacht, zündeten Autos an, beschmierten die Wände. „Ihr werdet es noch bereuen“, steht auf Hebräisch auf einem Haus in Taybeh. Es ist das letzte rein christliche Dorf im Westjordanland. Hier, so erzählt man sich, soll sich Jesus vor seiner Passion zurückgezogen haben. Das biblische Ephraim, umgeben von Hügeln und Olivenhainen. Doch längst ist Taybeh kein Ort der Zuflucht mehr – sondern Ziel gewalttätiger, israelischer Siedler, die vor allem ein Ziel haben: die Vertreibung der palästinensischen Christen aus ihrer Heimat.
Die jüngste Attacke geschah Anfang vergangener Woche. Augenzeugen berichten, dass bewaffnete Siedler in der Dunkelheit ins Dorf eindrangen, Steine warfen, Feuer legten. Erst als junge Palästinenser herauskamen, um ihre Häuser, ihr Vieh und ihre Familien zu schützen, sollen die Angreifer geflohen sein. Es war nur einer von vielen Übergriffen dieser Art. Anfang Juli hatten die Siedler ein Feuer gelegt, das die Ruinen einer jahrhundertealten Kirche in Taybeh bedrohte. Im nahe gelegenen Ort Kafr Malik tötete das israelische Militär drei Palästinenser, nachdem über 100 Siedler ins Dorf eingedrungen waren und es zu Zusammenstößen mit den Bewohnern gekommen war.
Seit Jahrzehnten besetzen radikale jüdische Siedler immer mehr Teile des Westjordanlands. Oft leben sie in provisorischen Containern, die an Baustellen erinnern. Andere Siedlungen ähneln längst kleinen Vororten, mit Straßen, Vorgärten, roten Ziegeldächern. So oder so: Völkerrechtlich sind sie illegal. Trotzdem schreitet der Siedlungsausbau immer weiter voran. Lange Zeit schleichend und systematisch – und seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auch mit immer mehr Brutalität. Laut dem UNO-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) wurden allein vom Januar 2024 bis April 2025 mehr als 40 000 Palästinenser vertrieben. Inzwischen leben nach Angaben des US-Geheimdienstes CIA rund 470 000 israelische Siedler im Westjordanland – bei einer Gesamtbevölkerung von 3,2 Millionen Menschen.
Bis zu 85 Prozent der Bewohner sind Muslime. Der Hass der jüdischen Siedler trifft längst nicht nur sie, sondern zunehmend auch Christen – sie machen nur bis zu 2,5 Prozent der Bevölkerung aus. In Taybeh leben rund 1300 zumeist christliche Palästinenser. In Deutschland gilt Taybeh als Vorzeigeort in Palästina, bekannt ist das Dorf vor allem für seine Brauerei: Das Bier, gebraut nach deutschem Reinheitsgebot, gilt als das beste im Nahen Osten. Früher gab es hier sogar ein Oktoberfest. Seit dem 7. Oktober ist damit Schluss.
„Wir erleben gerade eine neue Qualität der Gewalt“, sagt Abt Nikodemus Schnabel, der aus Fulda kommt und die deutschsprachige Benediktinerabtei Dormitio auf dem Zionsberg in Jerusalem leitet. Er war vergangene Woche in Taybeh, um sich ein Bild von der Lage zu machen. „Seit einigen Wochen treiben die Siedler ihre Kühe immer wieder durchs Dorf. Die Tiere fressen die Olivenbäume kahl, dringen auf Privatgrundstücke vor, reißen Zäune ein.“ In der palästinensischen Kultur seien Olivenbäume mehr als Nutzpflanzen, erklärt er. „Sie stehen für Leben, Heimat und Zukunft.“
Einige Familien haben Taybeh bereits verlassen. „Die Menschen sind erschüttert. Viele sehen hier keine Zukunft mehr“, erzählt Abt Nikodemus. „Kinder, die früher sorglos auf der Straße spielten, rennen jetzt weinend davon, wenn die Kühe kommen, angetrieben von den Siedlern, reitend auf ihren Pferden.“ Auch die Landwirte trauten sich kaum noch auf ihre Felder.
„In manchen Kreisen ist der Begriff Terrorismus ausschließlich für die äußeren Feinde Israels reserviert, wie etwa die Hamas“, sagt der Abt. „Aber es gibt auch Feinde aus dem Inneren, nämlich den Terrorismus jüdischer Extremisten.“ Und dieser werde von der israelischen Regierung nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. „In der Regierung von Benjamin Netanjahu sitzen Mitglieder, die träumen von einem Groß-Israel und einer Vertreibung der Palästinenser – und die stammen selbst aus der radikalen Siedlerbewegung.“
Gemeint ist der ultrarechte israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, der für den Siedlungsbau zuständig ist. Der 45-Jährige gehört zu den mächtigsten Mitgliedern in Netanjahus Kabinett – und zu den gefährlichsten. Vergangenes Jahr hatte er gesagt, das Aushungern der Menschen in Gaza sei „gerechtfertigt und moralisch“. Als Frankreich erklärte, Palästina als Staat anerkennen zu wollen, sagte Smotrich: Das sei ein weiterer Grund, das seit 1967 besetzte Westjordanland zu annektieren. Erst kürzlich hat er den Bau von 22 Siedlungen genehmigt.
Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Das israelische Parlament hat Ende Juli in einer Resolution eine Annexion des Westjordanlandes befürwortet. Das löste vor allem in der arabischen Welt, aber auch weltweit Kritik aus. Als Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) vergangene Woche das Westjordanland besuchte, erklärte er in ungewohnter Deutlichkeit, Berlin würde eine israelische Annexion nicht anerkennen. Und nachdem am Sonntag der zweite US-Bürger innerhalb eines Monats durch Siedlergewalt im Westjordanland getötet wurde, sprach der US-Botschafter in Israel, Mike Huckabee, von einem „kriminellen und terroristischen Akt“.
Am Dienstag vergangener Woche haben die Kirchen in Jerusalem eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie die israelische Regierung scharf kritisieren. „Wir sind zutiefst beunruhigt über das vorherrschende Klima der Straflosigkeit“, heißt es darin. Die israelische Polizei spiele die Vorfälle in Taybeh herunter und ignoriere wesentliche Details, klagen die Kirchenführer.
Nur Stunden nach Veröffentlichung wurde der palästinensische Aktivist Odeh Hadalin von einem Siedler erschossen. Er hat am Oscar-prämierten Film „No Other Land“ mitgewirkt, der vom palästinensischen Alltag unter israelischer Besatzung erzählt – und von der Gewalt der Siedler.