München – Es ist eine ungesehene Front: Während die Welt voller Sorge auf den Gazastreifen blickt, führt Israel seit Monaten auch im Westjordanland eine Großoffensive durch. Simon Engelkes ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah. Wir haben mit ihm über die Lage vor Ort gesprochen.
Herr Engelkes, wie geht es den Menschen im Westjordanland?
Die Lage vor Ort ist vielschichtig. Einerseits hat sich seit Beginn des Gaza-Kriegs die wirtschaftliche Lage extrem verschlechtert. Tourismus und Binnenhandel sind eingebrochen, Menschen im öffentlichen Sektor haben aufgrund der schlechten Haushaltslage der Autonomiebehörde schon lange keine vollen Gehälter mehr erhalten. Dazu kommen massive Bewegungseinschränkungen: Überall gibt es israelische Checkpoints, die Wege in die Städte und zwischen den Dörfern blockieren. Zwar kannten wir das schon vorher, aber seit dem 7. Oktober hat deren Anzahl und Unberechenbarkeit zugenommen.
Weil auch die Gewalt zugenommen hat?
Richtig. Wir sehen groß angelegte israelische Militäroperationen, vor allem im Norden, mit Schwerpunkt auf die Flüchtlingslager Dschenin und Tulkarem. Nach israelischen Angaben dienen sie der Terrorabwehr. In der Praxis kommt es dort jedoch zu massenhaften Vertreibungen und der Zerstörung von Häusern. Seit dem 7. Oktober wurden allein im Westjordanland mehr als 1000 Palästinenser getötet und rund 8000 verletzt.
Auch durch Angriffe radikaler Siedler?
Ja, auch. Allein im ersten Halbjahr 2025 gab es bereits über 2000 Angriffe von Siedlern. Sie legen Feuer, randalieren, zerstören Felder und Olivenhaine. Auch solche Angriffe kannten wir schon vor dem Krieg, aber seit Ende 2023 gehen die Täter noch rücksichtsloser vor. Sie wollen das Leben für die Palästinenser so unerträglich machen, dass sie das Gebiet verlassen – und Platz machen für israelische Außenposten und Siedlungen. Das sind systematische Angriffe.
Welche Rolle spielt die israelische Regierung?
Als demokratischer Rechtsstaat trägt Israel die Verantwortung, gegen die Täter zu ermitteln und diese strafrechtlich zu verfolgen. Faktisch herrscht oft jedoch völlige Straflosigkeit.
Weil sie die Gewalt fördert?
Das ist schwer zu sagen. Benjamin Netanjahu selbst steht nicht unbedingt im Verdacht, das Westjordanland um jeden Preis annektieren zu wollen. Sein Finanzminister Bezalel Smotrich, selbst ein Siedler, hingegen schon – er ist für den Siedlungsbau im Westjordanland verantwortlich. Selbst die Knesset, das israelische Parlament, hat kürzlich die Regierung dazu aufgerufen, die israelische Souveränität auf die Siedlungen im Westjordanland auszuweiten.
Warum ist die Lage seit dem 7. Oktober derart eskaliert?
Sicherlich auch, weil die internationale Aufmerksamkeit auf dem Gazastreifen liegt. Die Welt blickt kaum noch ins Westjordanland. Dazu kommt: Seit dem 7. Oktober sind beide Seiten, Israelis wie Palästinenser, extrem traumatisiert. Das führt dazu, dass die Emotionen immer häufiger überhandnehmen – und sich letztlich in Hass und Gewalt entladen.