Mit Rumms und Risiko

von Redaktion

Antrittsbesuch beim Bundeskriminalamt, hier mit Spezialisten für Auslandseinsätze. © Clemens Bilan/EPA

Charmeoffensive auf der Zugspitze: Dobrindt mit Minister-Kollegen und mit Staatssekretärin Daniela Ludwig. © Wittek/EPA

Kein Meter ohne Begleitung, keine Fahrt mehr ungepanzert: Das ist der Alltag eines Innenministers unter 24-Stunden-Personenschutz. Für ihn gilt die höchste Sicherheitsstufe. © Kay Nietfeld/dpa

München – Es sieht so harmlos aus, nach Winke-Winke und Händedruck. Tag 1 im Innenministerium, hochdekorierte Bundespolizisten mit goldenen Sternen auf den Schultern reihen sich als Empfangskomitee vor der Pforte auf, die scheidende Ministerin Nancy Faeser ringt sich ein Lächeln ab fürs Foto vor dem riesigen Bundesadler. Auch das Team aus dem Instagram-Referat läuft auf Alexander Dobrindt zu, kurzes Statement bitte. „Ich bin der Neue“, sagt Dobrindt also freundlich in die Handykamera: „Jetzt geht‘s los.“ Und hier beginnt der erste Irrtum. Das ist keine Grußbotschaft des neuen Ministers. Sondern seine Kampfansage.

Ab Tag 1 gebe es eine neue Asylpolitik, hatte die Union versprochen vor der Wahl, immer wieder. Also startet an jenem Mai-Tag in Berlin-Moabit das Großprojekt Migrationswende. Es beginnt mit Widerständen. Und zäh. Dobrindt bringt die Händeschüttelei hinter sich (kurz), eine kleine Antrittsrede an die Beamten (mittelkurz) und Faesers Abschiedsrede (recht lang, sie will gar nicht mehr gehen). Im Laufschritt, so schildern es Augenzeugen, steuert er dann den Aufzug an, sechster Stock. Besprechung im Ministerbüro, jetzt, Thema Migration.

In jener Runde zieht der Neu-Minister seinen Plan aus der Tasche. Umgehend Grenzkontrollen, verkündet er den zuständigen Beamten, sofort Zurückweisungen an allen Grenzen, auch bei Asylbewerbern. Es folgt ein Trommelfeuer an Bedenken aus dem Haus: Europarechtswidrig sei das, die Bundespolizei werde überfordert, es drohe Riesenkrach mit jedem Nachbarland, außerdem Staus. Dobrindt hört sich alles an, bleibt freundlich, ruhig – und hart. „Wer ihn kennt, hat an seinem Tonfall gemerkt: Er wird sich nicht abbringen lassen“, sagt ein Teilnehmer. Nur: Die meisten hier kennen ihn halt noch nicht.

Die Besprechung dauert und dauert. Am Ende steht eine bis aufs Komma ausgetüftelte Erklärung, Dobrindt verkündet sie Journalisten später, für seine Verhältnisse eher stockend und vorsichtig – aber im Kern exakt sein Plan. Was er nicht erzählt, sich aber wie ein Lauffeuer im Haus rumspricht: Einer der zuständigen Abteilungsleiter für Migration, ein Faeser-Mann, ist vom neuen Minister umstandslos gefeuert worden. Ein Warnschuss.

Es ist ein Start mit Rumms und Risiko. Auf den Rumms im bisherigen SPD-Ressort hat sich CSU-Mann Dobrindt, das dämmert den Beamten, exakt vorbereitet. In den Frühjahrswochen, als die SPD-Mitglieder das Für und Wider des Mitregierens abwogen, erarbeitete Dobrindt einen genau getakteten Plan zur Migrationswende. Tag 1: Zurückweisungen. Dann Aussetzen des Familiennachzugs. Dann Aus der beschleunigten Einbürgerung. Dann Gesetzesänderung, dass „Begrenzung“ wieder Staatsziel wird. Dann Abschiebeflüge – Afghanistan, Syrien. Er wusste genau, was die SPD mitgeht und was im Koalitionsvertrag steht, darin hatte er ja persönlich die Innenpolitik verhandelt. Parallel suchte er sich früh ein halbes Dutzend seiner engsten Mitarbeiter aus der Landesgruppe, um mit ihnen an Tag 1 geballt im Betonbunker Innenministerium einzurücken: Schlüsselpositionen besetzen, vorübergehend ganze Ebenen des Hauses abkoppeln, deren Loyalität er sich nicht sicher war.

Das ist Machtpolitik aus dem Lehrbuch. Was bleibt, sind die Risiken. Dass die Bedenken der versierten Ministerialjuristen vielleicht doch nicht so doof sind, zum Beispiel. Was, wenn ihm Gerichte seine Zurückweisungen öfter als nur in Einzelfällen um die Ohren hauen? Oder Europa rebelliert gegen seine Grenzkontrollen? Es fällt schon auf, dass Dobrindt die Kollegen der Nachbarländer seit Wochen intensiv umschwärmt: Im Juli holt er alle zum Gipfeltreffen auf die Zugspitze. Den spröden polnischen Kollegen besucht er in einer Charmeoffensive an der polnisch-belarussischen Grenze. Dobrindt lässt sich von ihm 300 Kilometer Stahlzaun zeigen, als gebe es nichts Spannenderes. Das lenkt auch ab von der eigentlich bizarren Situation, dass Polen tausende Soldaten an die deutsche Grenze geschickt hat, als Trotz-Reaktion auf Dobrindts Kontrollen.

Dass mal einer mit Plan und Team sein Amt antritt, klingt für Laien gar nicht so verwegen. Doch die Realität ist anders, viele Bundesminister haben ja nur ein paar Tage Vorlauf vor der Ernennung, manche erfahren so was auch erst über Nacht. Dank seiner Machtposition als Chef der CSU-Landesgruppe, als Vertrauter der Parteichefs Friedrich Merz und Markus Söder gleichermaßen, hatte Dobrindt seinen Vorsprung. Und nutzte ihn. Auch, um sein Ministerium exakt auf seinen Plan zuzuschneiden: Die Abteilungen für Heimat, Sport und Digitales – wohlklingend, aber nicht zentral – schob er anderen zu, ihm reicht ein reines Sicherheits- und Migrations-Ministerium.

Wenn in ein paar Tagen nun die großen 100-Tage-Bilanzen für die Regierung Merz geschrieben werden, wird es über ihn heißen: Er hat geliefert. Zum Vergleich: Geklappt hat das sonst nur in Merz‘ Außenpolitik, ebenso lang und gründlich vorgeplant. Gegenbeispiele: Die CDU-Wirtschaftsministerin rührte bisher keinen Finger am verhassten Heizgesetz, die SPD-Sozialministerin nicht am Bürgergeld, der CSU-Agrarminister merkte nach drei Monaten, hoppla, meine höchsten Beamten im Ministerium sind ja engagierte Grüne.

Die Planerei, das strategische Denken, der bewusste Gang in Konflikte, das liegt Dobrindt. „Alexander, Anheizer, Analytiker“, titelte die „taz“, eigentlich der natürliche Fressfeind jedes CSU-Innenministers, zu seinem Amtsantritt anerkennend. Wer jetzt mit ihm über die ersten 100 Tage spricht, erlebt einen erstaunlich ruhigen, reflektierten Politiker. Er spricht davon, dass die größte Aufgabe dieser Regierung nach drei Jahren Ampel und 16 Jahren Merkel eine fast Existenzielle ist: Den frustrierten, verdrossenen Menschen zu zeigen, dass Politik doch was bewegen kann. Vielleicht manche auch zurückzuholen ins demokratische Lager.

Ob er sich das zutraut, hat Dobrindt lange geprüft. Er war ja Landesgruppenchef, der vielleicht schönste Job eines CSUlers überhaupt, weil man an allem beteiligt, aber für nichts haftbar ist, Strippen ziehen, aber auch mal drei Wochen in den Urlaub fahren kann. Und Kabinett ist nichts Neues, per se Reizvolles für ihn, Verkehrsminister war er ja auch mal, und davon blieb vor allem das Maut-Debakel kleben.

Er fragte eine Handvoll Vertraute in der Politik, Edmund Stoiber, der den Wechsel ins Berliner Kabinett nie gewagt hatte, und Horst Seehofer, der es versucht hatte als Bundesinnenminister 2018, aber nicht recht glücklich wurde da. Es heißt, beide rieten trotzdem zu. „Du musst“, sagte Stoiber. Aus München machte Parteichef Markus Söder Druck. Tenor: Die CSU hat so lange über die Asylpolitik von Merkel und Ampel geschimpft, jetzt muss sie die einmalige Chance nutzen, sie rückabzuwickeln. Die CSU hätte auch keinen anderen fürs Innenressort. Dobrindt als Kneifer, Wegducker?

Die Rolle des Strippenziehers hat er parallel behalten, ebenso Merz‘ enges Vertrauen, beide reden oft mehrfach am Tag am Handy. Dobrindt bearbeitet dann im Hintergrund Konfliktherde der Koalition. Manches entschärft er, bremst redefreudige Bundestagspräsidentinnen, nordet den schlingernden Außenminister ein, notfalls in Telefonkonferenzen um Mitternacht, wenn der Tageswust halbwegs abgearbeitet ist. Ihm hilft, dass er im Polit-Betrieb als Profi und Brückenbauer gilt, bis tief in die SPD hinein. Sogar manche Grüne sagen halblaut, so schlimm wie sein Image sei dieser Dobrindt gar nicht. Manchmal kommt er auch zu spät, der Zoff um die Richterwahl etwa fliegt der Koalition hässlich um die Ohren.

Der persönliche Preis dafür: Kein Schritt mehr allein

Reichen 100 gute Tage? 1000 kommen noch in dieser Periode, in einem Haus, in dem jeden Moment ein Anschlag, ein missglückter Einsatz, Unglück oder auch nur ein dummer Ministersatz alles durchkreuzen kann. Dobrindt kann auch noch scheitern, krachend.

Er sagt zumindest, dass er es nicht bereut: „Wenn man etwas verändern will in Deutschland, ist das Innenministerium genau das richtige Haus dafür. Das heißt aber auch, dass sich das Hamsterrad schnell drehen muss.“ Er habe von Tag 1 an keinen Zweifel lassen wollen, „dass ich bereit bin, diese Geschwindigkeit zu leisten“.

Einen persönlichen Preis dafür zahlt er trotzdem, unübersehbar. Seit Amtsantritt darf der 55-Jährige keinen einzigen Schritt mehr ohne Personenschutz machen, als Innenminister hat er die Sicherheitsstufe wie Kanzler und Bundespräsident. „So eine Entscheidung verändert das ganze Leben“, sagt er. Fahrten nur in einem kleinen Konvoi aus zwei gepanzerten Limousinen, deren Türen er nicht selber öffnen darf. Einer aus dem Team der 20 Leibwächter, im Schichtdienst immer um ihn herum, erledigt das. Für einmal mag das lustig klingen, für den Alltag bitter. Geht Dobrindt aufs Klo, steht das Bundeskriminalamt mindestens am Waschbecken.

Sogar daheim in Peißenberg, wo er für die meisten halt der „Alex“ ist und mit Frau und Kind ohne Menschenauflauf sonntags zur Eisdiele schlurfen konnte, stehen jetzt rund um die Uhr Polizisten vor seinem Privathaus. Wer mit dem Hund am Gartenzaun Gassi geht, wird höflich angesprochen. Im Haus wurden die Fensterscheiben rausgerissen und durch Panzerglas ersetzt. Dobrindt persönlich lief von Nachbar zu Nachbar, bat um Verständnis. Immerhin: Die anfänglichen Irritationen, was das mit dem kleinen Ort macht, sind gewichen. „Inzwischen ist es fast eine kleine Attraktion geworden“, sagt er. „Kinder machen Fotos mit den Polizisten, die Leute kommen ins Gespräch.“

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