Ein Steinkrebs blickt skeptisch nach oben. Nach der Erfassung seiner Daten darf er wieder abtauchen. © EMANUEL GRONAU
Leben zusammen in einem Bach: Dr. Jeremy Hübner zeigt einen gefundenen Edelkrebs (li.) und einen Steinkrebs. © GRONAU
Ein Steinkrebsbecken in Wielenbach: Jeremy Hübner mit Fischwirtschaftsmeister Martin Szyja (links). © GRONAU
Da ist einer! Jeremy Hübner hat einen Krebs unterm Stein gefunden, Stefan Höfle notiert Art, Geschlecht und Größe. © GRONAU
München – Der Weg zur „Schatzkiste“, wie Jeremy Hübner diesen Ort nennt, führt einen Abhang hinunter, über Moos und Steine, durch Gestrüpp und einen dichten Wald. Erst unten in der Senke sieht man den Bach, der hier durch die unberührte Natur mäandert. Das ist die Schatzkiste, die für Bayerns Flusskrebse so wertvoll ist, dass wir nicht schreiben dürfen, wo im Kreis Weilheim-Schongau wir sind.
Märchenhaft schön ist dieser Bach mit seinen grün leuchtenden Ufern und den blauen Libellen, die in der Luft tanzen. Hübner aber, der mit hüfthohen Gummistiefeln im Bachbett steht, macht ein sorgenvolles Gesicht. Als wir mit ihm unterwegs sind, führt der Bach wenig Wasser. „Da fehlen mindestens 30 Zentimeter.“ Und warm sei es obendrein. Hübner hält die Hand ins Wasser. „Das sind locker über 20 Grad.“ Seine Schützlinge mögen es kalt.
Jeremy Hübner ist Flusskrebs-Experte am Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU). „Jetzt schauen wir mal.“ Er greift einen Kescher, kniet sich ins Bachbett und dreht einen größeren Stein um. Dort, oder in Höhlen am Ufer, verstecken sich die nachtaktiven Flusskrebse gerne am Tag. Zwei Arten sind im Freistaat heimisch: der größere Edelkrebs und der kleinere Steinkrebs. Normalerweise leben sie in unterschiedlichen Habitaten, der Edelkrebs bevorzugt es wärmer und ist auch gerne am See, der Steinkrebs liebt kältere Bachoberläufe. Dass sich beide quasi Schere an Schere ein Bachbett teilen, das gebe es, sagt Hübner, nur noch „an einer Handvoll Gewässer in Bayern“.
Früher waren beide Arten weit verbreitet. Der Edelkrebs wurde zudem für den Verzehr gezüchtet. Heute sei schon die Tatsache, dass in Bayerns Gewässern Krebse zur heimischen Fauna gehören, „aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden“, wie Hübner es formuliert. Oder anders ausgedrückt: „Viele wissen nicht, dass es bei uns Krebse gibt.“
Tatsächlich sind Edel- und Steinkrebs selten geworden in Bayerns Seen, Flüssen und Bächen. Das liegt auch daran, dass geeignete Lebensräume schwinden. Hauptsächlich aber hat das mit Einwanderern zu tun. Vor gut 150 Jahren, 1860, werden erstmals nordamerikanische Krebsarten nach Europa gebracht und ausgesetzt. Was die Menschen damals nicht wissen: Die Amerikaner übertragen die Krebspest, eine Pilzerkrankung, gegen die sie selbst immun sind, die für alle anderen europäischen Arten aber immer tödlich verläuft. Rasend schnell verbreitet sich die Krebspest über den Kontinent, ein Großteil der Bestände fällt ihr zum Opfer. Später werden nordamerikanische Krebse im großen Stil in Europa gezüchtet, um die dezimierten Bestände der heimischen Krebse zu kompensieren. Das macht das Problem nur größer.
Mittlerweile sind die Krebse und mit ihnen die Pest in ganz Europa. In Bayern sind viele Flüsse und Seen nur mehr von diesen invasiven Arten besetzt, allen voran dem Signalkrebs und dem Kamberkrebs. Laut dem LfU hat der Freistaat in den vergangenen 20 Jahren die Hälfte seiner Populationen an Edel- und Steinkrebsen verloren. Den Tieren bleiben immer weniger Rückzugsgebiete, in die Signal- und Kamberkrebs noch nicht vorgedrungen sind – vor allem in Oberbayern, Niederbayern und Schwaben.
Jeremy Hübner will heute den Bestand kartieren: Anzahl, Geschlecht, Größe. Es dauert eine Weile, dann wird der Biologe fündig. Edelkrebs weiblich, sieben Zentimeter. Edelkrebs weiblich, zehn Zentimeter. Steinkrebs weiblich, fünf Zentimeter. Stein für Stein arbeitet sich der 33-Jährige im Bachbett voran, während sein Kollege Stefan Höfle alles akribisch notiert. Auch zwei tote Bachforellen werden aufgeschrieben. „Vermutlich der Hitze geschuldet“, meint Hübner.
Ihm liegt dieser Ort am Herzen. Das Schlimmste, was sich der Krebsexperte vorstellen kann, ist, hier einen Signalkrebs aus dem Wasser zu fischen. „Dann weiß ich, dass die einheimischen Krebse in den nächsten Wochen sterben werden, da reicht ein einziger mit Krebspest infizierter Signalkrebs aus.“ Selbst wenn nur ein Zulauf des Bachs von invasiven Arten besetzt wäre, würden das Edel- und Steinkrebs nicht überleben, da sich die Krebspest über das Wasser überträgt. Die Krankheit sei ein Albtraum, sagt Hübner.
Die Invasoren abfischen? Hübner winkt ab. Das habe man alles schon versucht. „Das, was hilft, ist ein Gewässer komplett abzulassen, die invasiven Arten zu entfernen und dann die einheimischen Arten neu anzusiedeln.“ Bei einem kleinen Teich gehe das vielleicht, aber nicht bei einem Bach oder Fluss. Auch eine Impfung sei nicht in Sicht. „Die einzige Lösung ist es deshalb, die einheimischen Krebse vor den invasiven Krebsen zu schützen.“
Ein Mittel sind Krebssperren. Die Bauwerke aus Blech oder Edelstahl verhindern, dass die Nordamerikaner weiter flussaufwärts wandern. In Baden-Württemberg gibt es an die 80 solcher Sperren, in Bayern sind sie noch selten. Auch das soll das Artenhilfsprojekt des LfU ändern. Eine Sperre wurde gerade in Niederbayern gebaut, weitere sollen bald in Schwaben folgen. Für die kommenden Jahre sind 50 Krebssperren in Bayern geplant.
Ein zweiter Baustein: Wiederansiedlung. Hübners Team hat bereits vereinzelt Krebse ausgesetzt. Ihr Fokus liegt auf den Steinkrebsen, die in der Fischzuchtanlage des LfU in Wielenbach im Kreis Weilheim-Schongau vermehrt werden. Die Anlage sei eine der wenigen in Europa, denen die Nachzucht von Steinkrebsen gelinge, sagt der dortige Fischwirtschaftsmeister Martin Szyja. Die Steinkrebse leben in beschatteten Betonbecken und Naturteichen. Allerdings ist ihre Anzahl noch zu gering, als dass die Nachkommen im großen Stil ausgesiedelt werden könnten. „Aber wir arbeiten daran“, sagt Szyja.
Im Waldbach hat Jeremy Hübner auf 40 Metern 18 Steinkrebse und neun Edelkrebse gezählt – ein mittlerer Bestand. Was ihn zuversichtlich stimmt, sind die vielen Jungtiere und Weibchen, die er gefunden hat. In der Welt der Krebse bedeutet das, dass sich die Population stressfrei vermehren kann. „Hoffentlich bleiben sie gesund“, sagt er, bevor er sich auf den Rückweg macht. Nächstes Jahr wird er wieder nach seinen Krebsen sehen.