Alle Mann aufsitzen! Ein Feldwebel der Infanterie steht vor einer Fahrradabteilung der Bundeswehr. Das Foto stammt aus dem Jahr 1988. © Picture Alliance
München – Ein Kritiker hat Christian Klippel mal bescheinigt, er habe damals „aus der Hüfte geschrieben“. Schnell und scharf, vielleicht nicht immer ganz zielsicher. Da könnte was dran sein, räumt Klippel ein. Das Buch, mit dem er bekannt wurde, war für ihn eine Art Therapie, hier verarbeitete er Frust und Verbitterung aus 15 Monaten. „456 und der Rest von heute“ handelte von einem Bundeswehrsoldaten und seinen wachsenden Zweifeln am Sinn seiner Tätigkeit. 80 000-mal verkaufte sich das Buch, es war für viele junge Männer ein Schlüsselroman.
456, das ist keine zufällige Zahl. Sie steht für die Tage, die man als Grundwehrdienstleistender in den Siebzigern wie Klippel und bis Ende der Achtziger zu absolvieren hatte. Wer nur aufgrund der Wehrpflicht bei der Bundeswehr war, der hatte seine Zahl jederzeit parat. Mit jedem Tag weniger rückte die Freiheit, so empfand man das, ein Stückchen näher.
Klippel, heute 70, war so jemand. Seine Zeit in einem Flugabwehrbataillon in Marburg hat er als „traumatisierend“ in Erinnerung. „Der dauernde Druck, die permanenten Verletzungen, dieses Rumgebrülle.“ Er kam aus einem liberalen, pazifistischen Haushalt, die Kaserne war eine ganz andere Welt. Feingeister hatten es hier nicht immer leicht.
Die 70er-, 80er-Jahre waren militärisch eine Zeit permanenter Anspannung. Der Kalte Krieg prägte die Außen- und Sicherheitspolitik weltweit, gleichzeitig gab es in Deutschland eine starke Friedensbewegung. In diesem Spannungsfeld bewegte sich die Bundeswehr. Und in einem Schwebezustand, weil an Auslandseinsätze, die heute fast normal sind, noch nicht zu denken war. Soldat zu sein, das hieß vor allem, sich vorzubereiten auf einen Fall, der hoffentlich nie eintreten würde.
Die Rekruten, sagt Klippel, „haben sich um die politische Dimension herzlich wenig geschert. Sie waren einfach froh, wenn es vorbei war.“ Für viele junge Männer war der Wehrdienst der erste Knick in der Biografie, der innere Widerstand zeigte sich an äußerlichen Kleinigkeiten. An einem Maßband zum Beispiel, das es am Kasernenkiosk zu kaufen gab. Ein Zentimeter für jeden Tag bis zum Ausscheiden, befestigt an einer Kordel, die an einem Karabiner am Hosenbund hing. Wie ein ganz normaler Teil der Ausrüstung.
Soldaten waren damals allgegenwärtig. Jeden Freitag und Sonntag füllten Hunderttausende in Oliv die Züge zwischen Kaserne und Wohnort. Wer im Ruhrgebiet lebte und an der Nordseeküste diente, galt noch als „heimatnah“ stationiert. Trotz der öffentlichen Präsenz blieb die Bundeswehr für viele Menschen ein Paralleluniversum, das mal bestaunt, mal bespöttelt wurde. Der Komiker Mike Krüger füllte ganze Alben und Konzerthallen mit Liedern übers Soldatenleben.
Das klang dann so: Denn ich bin Bundeswehrsoldat, ein toller Typund ich hab‘ mein Vaterland so furchtbar lieb.Wollte nie in meinem Leben was anderes seinund außerdem fiel mir auch gar nichts Besseres ein.
Fritz Felgentreu (56) ging auf dieselbe Schule wie Krüger, er kennt die Lieder. „Das war Spott mit Sympathie.“ Felgentreu war mehr als nur die 456 Tage beim Bund. Er verpflichtete sich für zwei Jahre, und als er später für die SPD in den Bundestag einzog, machte er sich einen Namen als Verteidigungspolitiker. Seine Bundeswehrzeit bei einem Feldartilleriebataillon in Dithmarschen empfindet er bis heute als Gewinn: „Im Grunde habe ich die Zeit genossen.“ Während Klippel zunehmend litt, „wuchs bei mir die Überzeugung“, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Felgentreu lernte auch Grundlegendes über internationale Beziehungen und Bedrohungen oder darüber, wie eine Armee funktionieren sollte, damit sie tatsächlich abschreckt.
Im Bundestag, aus dem er 2021 ausschied, saß Felgentreu als Sprecher seiner Fraktion im Verteidigungsausschuss. Ein Thema: die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber. Da habe sich viel getan, „die sozialen Bedingungen sind ganz hervorragend“. Entscheidend sei aber etwas anderes: „Das Erleben der Sinnhaftigkeit. Ist die Bundeswehr angemessen ausgestattet? Hat sie die notwendigen Mittel? Kann ich ausreichend üben?“ In seiner Zeit als Abgeordneter, kurz nach dem Aussetzen der Wehrpflicht, sei das „überhaupt nicht der Fall“ gewesen. Nun hofft er, dass das Sondervermögen zur Verteidigung für Besserung sorgt.
Wehrdienst ist heute eine andere Aufgabe: Finanziell interessanter, militärisch fordernder, gesellschaftlich sensibler. Früher, erinnert sich der Hauptmann der Reserve Felgentreu, hätten Bauern für Soldaten, die auf Übungen einen Schlafplatz suchten, die Scheune aufgesperrt. Heute kann man schon froh sein, nicht angegiftet zu werden, wenn man in Uniform Zug fährt.M. BEYER