Boris Pistorius auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow in einem Puma-Schützenpanzer. © Kay Nietfeld/Picture Alliance
Berlin – Zum ersten Mal seit 33 Jahren trifft sich die Bundesregierung am Mittwoch im Verteidigungsministerium. Der Ortswechsel solle die hohe Bedeutung der Bundeswehr unterstreichen, heißt es aus dem Bendlerblock. Dort soll das Kabinett den Entwurf zum Wehrdienstgesetz von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) beschließen. Eine Kernfrage ist: Reicht das angedachte „schwedische Modell“, das auf Freiwilligkeit setzt – oder braucht es doch eine Wehrpflicht, wie sie es bis 2011 gab?
Welche Schritte sieht das neue Gesetz vor?
Der neue Wehrdienst soll zum 1. Januar 2026 kommen. In einem ersten Schritt erhalten alle Jugendlichen, die im kommenden Jahr 18 werden, Post von der Bundeswehr. Junge Männer müssen im Internet einen Fragebogen beantworten, der auf persönliche Interessen, sportliche Aktivitäten, individuelle Fitness, Größe, Gewicht und konkret die Haltung zur Bundeswehr und ein etwaiges Interesse an einem Wehrdienst abzielt. Das Ziel ist ein Überblick über die potenzielle Verfügbarkeit geeigneter Kandidaten. Später werden auch ältere Jahrgänge angeschrieben, bis zum Alter von 25 Jahren. Für Frauen ist die Beantwortung der Fragen freiwillig.
Ist eine Rückkehr zur verpflichtenden Musterung geplant?
Ja. Eine Musterung ist aber erst ab Anfang 2028 vorgesehen, wenn die nötigen Strukturen aufgebaut sind. Alle 18-jährigen Männer sollen dann eingeladen werden, unabhängig von ihrer persönlichen Motivation, zur Bundeswehr zu gehen.
Warum ist ein neues Gesetz überhaupt nötig?
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die Nato die Bedrohungslage neu bewertet und die Vorgaben für die Mitgliedsstaaten deutlich erhöht. Auf dieser Basis müsste die Bundeswehr im Kriegsfall 460 000 Soldaten bereitstellen, davon 200 000 Reservisten. Das ist das zweitgrößte Kontingent innerhalb des Verteidigungsbündnisses. Aktuell hat sie rund 183 000 Soldatinnen und Soldaten im aktiven Dienst, dazu 50 500 Reservisten. Die Truppe muss also deutlich aufgestockt werden.
Wie viele zusätzliche Soldaten will die Bundeswehr gewinnen?
Ab 2026 soll die Zahl der Grundwehrdienstleistenden jedes Jahr um 3000 bis 5000 steigen. Für 2025 geht das Ministerium von ca. 15 000 Freiwilligen aus. Ab 2031 ist bei einem stetigen Wachstum demzufolge die Marke von 40 000 neuen Soldaten jährlich das Ziel.
Werden alle Männer eines Jahrgangs eingezogen?
Nein. Pistorius setzt auf das sogenannte „schwedische Modell“. Es sieht vor, dass eine Armee ihren Personalbedarf vor allem über jene jungen Menschen deckt, die sich als besonders motiviert und geeignet erweisen. Nur wenn auf diese Weise die Truppe nicht ausreichend gestärkt werden kann – oder sich die sicherheitspolitische Lage weiter zuspitzt –, soll eine erweiterte Wehrpflicht greifen. Diese müsste das Kabinett beschließen, der Bundestag müsste zustimmen. In diesem Fall könnte der Staat weitere junge Männer einziehen – so viele, wie in diesem Jahrgang nötig sind.
Wie lange soll der Wehrdienst in Deutschland in Zukunft dauern?
Der Entwurf sieht einen Grundwehrdienst von sechs Monaten vor. Anschließend besteht die Möglichkeit, den Dienst freiwillig um weitere 17 Monate zu verlängern. Unabhängig von der Länge sollen die jungen Soldaten nach dem aktiven Dienst in die Reserve eingebunden werden und regelmäßig an Übungen teilnehmen. Auf diese Weise soll die Reserve in den kommenden Jahren deutlich aufgestockt werden, um den Nato-Anforderungen gerecht zu werden.
Wie verlaufen die Fronten innerhalb der Regierung?
Unions-Fraktionsvize Norbert Röttgen (CDU) warf Pistorius zuletzt vor, der Gesetzentwurf werde den sicherheitspolitischen Anforderungen nicht gerecht. Röttgen, in der Union für außen- und sicherheitspolitische Themen zuständig, vermisst konkrete Zahlen und Zeitvorgaben, die dem angestrebten Aufwuchs der Bundeswehr einen verbindlichen Rahmen geben sollen. Zudem kritisiert er die Freiwilligkeit und dass bei einer echten Pflicht zunächst die Hürde von Kabinettsbeschluss und Zustimmung im Bundestag zu nehmen sei. Der Minister folge dem schwedischen Vorbild damit nur eingeschränkt. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass Pistorius bei den verpflichtenden Elementen des Gesetzes gerne weiter gegangen wäre, sich aber dem Druck aus der eigenen Partei beugen musste. Besonders die Jusos lehnen eine Wehrpflicht ab, solange nicht alle freiwilligen Optionen ausgeschöpft sind.
Inzwischen mehren sich aber offenbar auch in der SPD die Zweifel. Der frühere SPD-Chef und Außenminister Sigmar Gabriel spricht sich für eine richtige Wehrpflicht aus. „Deutschland muss zur Wehrpflicht zurückkehren. Anders wird es uns nicht gelingen, die Bundeswehr wieder zu einer Territorialarmee zu machen, die auch über ausreichend Reservisten verfügt“, sagte Gabriel dem „Tagesspiegel“. Ähnlich äußerte sich der frühere Wehrbeauftragte und SPD-Politiker Hans-Peter Bartels: „Ohne echte Wehrpflicht werden die der Nato angezeigten Zielzahlen von 260 000 aktiven Soldaten und mobilgemacht 460 000 nie und nimmer zu erreichen sein.“
Wie viele Soldaten verliert die Bundeswehr in den kommenden Jahren altersbedingt?
Aktuell muss die Bundeswehr jedes Jahr durch reguläres Ausscheiden von Zeit- und Berufssoldaten sowie durch Abbrüche in den ersten sechs Dienstmonaten ein Minus von bis zu 30 000 Soldaten ausgleichen. Das geschieht durch die Verlängerung von Verpflichtungszeiten sowie durch die Übernahme von Grundwehrdienstleistenden als Zeitsoldaten.
Wie viele Freiwillige konnte die Bundeswehr zuletzt anwerben?
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der freiwillig Wehrdienst Leistenden kontinuierlich gestiegen, allerdings auf mäßigem Niveau. Waren es 2019 noch 7640, lag die Zahl 2024 bereits bei 9150. Lediglich in den Corona-Jahren 2020 (7190) und 2021 (7330) war der Trend rückläufig. Einen markanten Anstieg gibt es allerdings in diesem Jahr. Bis Ende Juli wurden bereits 13 750 Soldatinnen und Soldaten eingestellt, davon der größte Teil über den freiwilligen Dienst. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht das einem Plus von 28 Prozent. Gründe dafür sind intensive Werbemaßnahmen sowie die heikle internationale Sicherheitslage.
Mit welchen Maßnahmen will die Bundeswehr konkret ihre Attraktivität langfristig erhöhen?
Das Verteidigungsministerium plant, Wehrdienstleistende künftig als Zeitsoldaten einzustufen. Ihr Sold würde damit deutlich steigen, auf über 2300 Euro netto im Monat. Im Falle einer Verlängerung der Dienstzeit könnten zudem Prämien an die Soldaten gezahlt werden. Weitere Anreize sind eine freie Heilfürsorge, günstige Verpflegung und kostenlose Bahnfahrten. Auch Hilfe beim Erwerb zusätzlicher Qualifikationen, etwa beim Führerschein, sowie Sprach- und Fitnesskurse sind eine Option.