Übergewicht: Spott und Häme sind Alltag

von Redaktion

München – Sie trauen sich nicht, mit dem Bus oder der Straßenbahn zu fahren. Die Leute könnten ja tuscheln. Schwimmbadbesuche sind tabu. „Geld hab ich immer nur nachts am Automaten geholt“, sagt Sabine Hacker aus München. Die 58-Jährige weiß, was es bedeutet, viel zu viel Gewicht auf die Waage zu bringen: „Vor zehn Jahren war ich über 220 Kilo schwer.“

Zunehmend mehr Menschen leiden wie Hacker an Adipositas. Hilfsangebote sind überlaufen. Dabei ist Unterstützung wichtig. Denn die psychosoziale Belastung durch starkes Übergewicht ist enorm. Und der öffentlich wahrgenommene Druck steigt auch durch die Verfügbarkeit von Abnehmspritzen. Das bestätigt Matthias Riedl, Diabetologe und Ernährungsmediziner aus Hamburg. Von der Spitze gehe die Botschaft aus: „In kurzer Zeit sehr viel abzunehmen, ist machbar, dann tu es!“ Der Hamburger Arzt sieht darin ein großes Problem. Er weist darauf hin, dass die Spritzen schwerwiegende Nebenwirkungen haben: „Wir sehen in unserer Ambulanz unter anderem Mangelernährung und eine starke Abnahme des Muskelstatus als Folge der Spritze“, sagt der Mediziner.

Corona-Lockdowns haben die Gewichtskrise verschärft

Sabine Hacker kennt die Vorurteile gegen Übergewichtige. Beim Einkaufen habe sie hämische Kommentare gehört: „Wir werden außerdem als faul abgestempelt.“ Mit Vermeidungsstrategien habe sie versucht, sich vor Diskriminierungen zu schützen.

Inzwischen hat Hacker zwei Operationen hinter sich. 2014 lag sie zum ersten Mal unter dem Messer. Aktuell wiegt die Münchnerin 100 Kilogramm. Das ist noch nicht ihr Traumgewicht: „Doch mehr geht nicht, damit muss ich mich jetzt abfinden.“ Längst vorbei ist die Zeit, in der sie sich kaum hinauswagte. Hacker geht heute selbstbewusst an die Öffentlichkeit, um über Adipositas aufzuklären. Vor allem engagiert sie sich für adipöse Menschen aus Oberbayern.

Alles, berichtet sie, begann mit einer Selbsthilfegruppe. Die musste während der Corona-Krise pausieren. Doch der Bedarf nach gegenseitiger Unterstützung war groß. Zusammen mit ihrem Mann begann sie, online Sportangebote zu organisieren. Daraus ging Ende 2021 der Verein Adipositas-Hilfe München hervor.

Die Corona-Lockdowns haben Gewichtsprobleme gerade bei Kindern verstärkt. Verfügbare Zahlen bestätigen das: 2023 wurden laut dem DAK-Kinder- und Jugendreport bundesweit 470 000 Mädchen und Jungen mit der Diagnose Adipositas ambulant oder stationär behandelt. Das waren fast fünf Prozent aller jungen Menschen zwischen 5 und 17 Jahren. 2021, also während der Corona-Krise, seien die Zahlen im Vergleich zu 2019 und 2020 deutlich angestiegen, so die Krankenkasse.

Auch nach einer Untersuchung des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2022 haben sich die Probleme durch die Corona-Krise verschärft. Knapp 3000 Erwachsene wurden zwischen Juli und Dezember 2021 befragt. 26 Prozent berichteten von einer Gewichtszunahme seit März 2020. Dabei fiel auf, dass vor allem jene Personen zugelegt hatten, die ohnehin schon fülliger waren. Frauen waren häufiger betroffen als Männer. Jüngere hatten mehr Probleme als Ältere, ihr Gewicht zu halten.PAT CHRIST

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