Die große Abnehmhoffnung: Spritzen der Marken Wegovy, Ozempic und Mounjaro. © Jens Kalaene/dpa
München – Im Kampf gegen Übergewicht gelten sogenannte Abnehmspritzen als der neueste Schrei. Dabei setzen Diabetes-Spezialisten ähnliche Wirkstoffe bereits seit mehr als 20 Jahren ein. Dr. Thorsten Siegmund gehört zu den Pionieren. Als früherer leitender Oberarzt der München Klinik Bogenhausen hat er eine Tagesklinik für Adipöse mit aufgebaut und hunderte Patienten mit den Vorgängerpräparaten behandelt. Heute betreut er in seiner Privatpraxis im Münchner Isarklinikum immer mehr Menschen, die auf die Abnehmspritze setzen. „Ganz so einfach ist es leider nicht“, sagt Siegmund. „Wer mit den neuen Medikamenten abnehmen und das Gewicht auch dauerhaft halten will, der braucht eine gute medizinische Begleitung.“ Denn die Nebenwirkungen sind nicht gering. Dennoch: Richtig eingesetzt, „können die meisten Patienten enorm davon profitieren – auch langfristig“, sagt Siegmund. Er erklärt die Fakten.
■ Der Abnehmeffekt
Mit Wegovy kann man im Laufe eines Jahres bis zu 15 Prozent des Körpergewichts verlieren, mit Mounjaro mehr als 20 Prozent. Bald könnte noch mehr drin sein. So wird gerade ein neuer Dreifach-Wirkstoff namens Retratutid getestet. Dabei verloren die Teilnehmer nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ durchschnittlich 25 Prozent. Wer die Abnehmspritze nach dem Gewichtsverlust absetzt, riskiert allerdings wie bei Diäten einen Jo-Jo-Effekt. Dr. Thorsten Siegmund: „In 80 Prozent der Fälle nehmen die Patienten wieder zu. Deshalb nehmen die meisten die Medikamente auf Dauer.“
■ Die Kosten
Wer einen Monat lang Wegovy in der Maximaldosis verwendet, muss stolze 276 Euro investieren, bei Mounjaro sind es sogar 489 Euro. Weil es sich um verschreibungspflichtige Medikamente handelt, braucht man ein Rezept vom Arzt – egal welcher Fachrichtung. „Der Kollege sollte allerdings Erfahrung mit diesen Therapien haben“, betont Siegmund, „eine zu hohe Dosierung, ohne dass der Patient daran gewöhnt ist, kann zu heftigen Nebenwirkungen im Magen-Darm-Bereich führen.“
Gesetzlich oder privat versichert: Die Spritzen muss man selbst bezahlen. Vor dem Therapiestart empfiehlt Siegmund einen Stoffwechsel-Check. „Es geht um die Abklärung, ob der Patient ein hormonell oder ein genetisch bedingtes Problem hat – meist liegt das Übergewicht an der Veranlagung“, sagt der Stoffwechsel-Experte. Für diese Labor-Analyse muss man um die 500 Euro bezahlen.
Zudem sind Kontrollbesuche beim Arzt alle drei bis vier Monate sinnvoll, um die Dosierung zu überprüfen und nötigenfalls die Therapiestrategie anzupassen. Insgesamt muss man für die ärztliche Betreuung mit Kosten von etwa 1000 Euro rechnen. Die Abnehmspritze hat also ihren Preis: Unterm Strich werden für eine hochwertige Rundum-Versorgung im ersten Jahr 3500 bis 5000 Euro fällig, in den Folgejahren 1000 bis 2000 Euro.
■ Die Erfolgs-Quote
Mehr als 80 Prozent der Patienten nehmen mit den Abnehmspritzen ab. Warum es bei den anderen nicht klappt, ist medizinisch noch nicht geklärt.
■ Die Anwendung
Man spritzt sich das Medikament einmal pro Woche. Die Dosis ist leicht einzustellen. Die Nadeln sind sehr fein, ähnlich wie bei Insulin-Pens. Der gesamte Vorgang ist schmerzfrei und dauert maximal eine Minute.
■ Die Nebenwirkungen
„Etwa die Hälfte der Patienten hat keine, die andere Hälfte bekommt Nebenwirkungen von unterschiedlichem Ausmaß. Meist sind es Magen-Darm-Beschwerden wie Völlegefühl, Übelkeit oder Durchfall. Mit einer klugen Dosierung lassen sich Beschwerden meist gut beherrschen“, sagt Siegmund. Gefährlichere Nebenwirkungen seien äußerst selten. Bei einigen wenigen Patienten wurden beispielsweise Entzündungen an Bauchorganen wie der Bauchspeicheldrüse oder der Gallenblase beobachtet.
Ob die Abnehmspritzen wirklich auch Auslöser der Erkrankungen sind, ist wissenschaftlich noch nicht zweifelsfrei geklärt. Vermutungen, dass Diabetes-Medikamente das Risiko für Tumorerkrankungen wie Schilddrüsen- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs erhöhen, hätten sich in einer Langzeitstudie mit über 17 000 Patienten nicht bestätigt, sagt Siegmund.
■ Das Risiko für die Augen
Der Wirkstoff Semaglutid erhöht – auf sehr niedrigem Niveau – das Risiko für die Augenerkrankung NAION, die zur Erblindung führen kann. Das ist eine plötzliche, schmerzlose Sehstörung, die durch eine Durchblutungsstörung des Sehnervs verursacht wird. Sie betrifft unter Semaglutid einen von 10 000 Patienten, so die Einstufung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA.ANDREAS BEEZ