Montpellier: Demonstranten werfen von der Polizei eingesetzte Tränengasgranaten zurück. © Gabriel Bouys/AFP
Macron soll zurücktreten, forderten diese Demonstranten bei einer Straßenblockade in Montpellier. © Horcajuelo/EPA
Aufruhr auch in Toulouse: Polizisten rücken gegen Randalierer an, im Hintergrund brennen aufgetürmte Gegenstände. © Ed Jones/AFP
Paris/München – Sogar am kühlen Ärmelkanal brodelt es. „Bayrou oder sonst jemand, es ist dasselbe, es ist Macron! Wir müssen sie alle feuern und jemanden mit Verstand einsetzen, der weiß, wie das Leben der Menschen am unteren Ende der Gesellschaft aussieht“, erboste sich ein Carrefour-Mitarbeiter in Seine-Maritime in der Normandie. Die Reformen, zitierte ihn die Tageszeitung „Le Monde“, seien nicht für die Arbeitnehmer gemacht. Amar Lagha, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT Commerces Services, feuerte gleich hinterher: „Wie können wir heute von einem Mindestlohn von 1400 Euro netto pro Monat leben? Und von diesen Leuten verlangen wir, den Gürtel noch enger zu schnallen?“
Die Stimmung in Frankreich ist mal wieder aufgeheizt. Eine genaue Bilanz steht noch aus, aber bereits zur Mittagszeit war von zehntausenden Demonstranten im ganzen Land die Rede. Hunderte Versammlungen und Blockaden, viele davon im Großraum Paris. Bis 13 Uhr meldete „Le Monde“ 295 Festnahmen. Bei Brandstiftungen gingen Autos in Flammen auf, ein Telekommunikationsturm wurde beschädigt – und die zweite Etappe der Ardèche-Rundfahrt der Frauen abgesagt. In Lille blockierten Demonstranten schon in der Nacht Fahrbahnen, zündeten Reisig an. Trotz Stau sollen Lastwagen-Fahrer aus Solidarität gehupt haben.
Frankreich steckt in der Schuldenfalle
In Großstädten wie Paris, Rennes und Marseille organisierte sich die „Bloquons tout“- Bewegung, was so viel heißt wie „Lasst uns alles blockieren“, schon in den Morgenstunden in Telegram-Kanälen, Signal- und WhatsApp-Gruppen. Wie „Le Monde“ berichtet, wurden Standorte von Blockaden, Treffpunkten und Polizeieinsätzen geteilt. Angesichts der großen Zahl an Polizisten, rund 80 000 wollte Innenminister Bruno Retailleau mobilisieren, gab es auf Telegram sogar den Kanal „Wo sind die Schlümpfe?“ Auch Schüler beteiligten sich und blockierten mehrere Gymnasien in Paris und anderen Städten. Die Bahn SNCF meldete mehrere Paletten und Baumstämme auf den Gleisen und beschädigte Kabel.
Wer genau hinter „Bloquons tout“ steht, ist nicht klar. Die Protestaufforderungen erfolgen dezentral, viele verschiedene Seiten wollen ihrem Ärger Luft machen. Unter anderem Linke, Gelbwesten-Gruppierungen und Gewerkschaften wie etwa die der Eisenbahner riefen zum Protest auf. Für den 18. September haben Gewerkschaften neue Streiks und Kundgebungen angekündigt.
Die Proteste sind vor allem eine Reaktion auf den Sparhaushalt-Vorschlag des bisherigen Premiers François Bayrou. Am Montag hatte dieser nach nicht einmal neun Monaten im Amt in der Nationalversammlung eine Vertrauensfrage verloren und seine Mitte-Rechts-Minderheitsregierung so zu Fall gebracht. Frankreich steckt tief in der Schuldenfalle. Gemessen an der Wirtschaftsleistung hat das Land mit 114 Prozent die dritthöchste Schuldenquote in der EU nach Griechenland und Italien. Mit rund 3300 Milliarden Euro lastet auf dem Land der höchste Schuldenberg in der Eurozone. Auch die Staatsausgaben gehören zu den höchsten in Europa. Das Haushaltsdefizit lag zuletzt bei 5,8 Prozent. Die EU hat bereits im Juli 2024 ein Defizitverfahren gegen Frankreich eröffnet.
In Frankreich liegt die Schwelle für Demonstrationen traditionell niedrig. Gewerkschaften haben einen anderen Stellenwert. In Deutschland können nur Gewerkschaften Streiks organisieren, und das auch nur bei anstehenden Tarifverhandlungen. In Frankreich dürfe jeder für einzelne sozialpolitische Ziele streiken, erläutert Politikwissenschaftler Alexander Gallas in der „Zeit“. Auch Beamte bis auf wenige Ausnahmen.
Das begünstigt laut der Bundeszentrale für politische Bildung Massenbewegungen. Diese richten sich oft gegen Entscheidungen der Regierung. In Frankreich gebe es zudem keine Verfassungsbeschwerde wie in Deutschland. So fokussiert sich die Unzufriedenheit der Bürger auf die Straße.
Neuer Premier: „Wir schaffen das“
Für Frankreichs frischgebackenen Premierminister Sébastien Lecornu wird es also ein schwerer Einstand. Aber schon bei der Gelbwesten-Bewegung, bei der es zwischen November 2018 und Juni 2019 landesweit zu Randale kam, konnte er erfolgreich vermitteln (s. Artikel unten). Gestern ging er gleich in die Offensive. „Wir schaffen das“, sagte er bei seiner Amtsübernahme. Angela Merkel fiel dieser in der Migrationskrise ausgesprochene Satz bekanntlich später auf die Füße.
Lecornu hat den Franzosen Veränderungen in Aussicht gestellt. „Es wird Brüche geben müssen und nicht nur in der Form, nicht nur bei der Methode, auch inhaltliche Brüche“, sagte er bei der Amtsübergabe in Paris. Man müsse die Kluft zwischen der politischen Situation und den Erwartungen der Bürger beenden. Dafür müsse man sich auch ändern, sagte Lecornu. Man müsse kreativer sein und ernsthafter in der Art, mit der Opposition zu arbeiten. „Es gibt keinen unmöglichen Weg. Diese Instabilität und die politische und parlamentarische Krise, die wir erleben, erfordern Bescheidenheit und Zurückhaltung.“ Genauer ging er nicht auf die angekündigten Veränderungen ein.