Hier ist der Bock wirklich Gärtner: Schafe leben und grasen auf dem Dach des „Werk 3“. © Ivana Bilz/Urkern
Im Werksviertel-Mitte gibt es unglaublich viel zu entdecken. Und es befindet sich ständig im Wandel. © Ivana Bilz/Urkern
Blick bis in die Alpen: Michael Meier dreht eine Runde in seinem Riesenrad „Umadum“. © Yannick Thedens
„Das war für uns der Jackpot“: Harry Gruber, der Retter krummen Gemüses, vor seinem Container. © Jens Hartmann
München – Wer sich im Werksviertel am Münchner Ostbahnhof umsieht, findet überall Relikte der Vergangenheit. Manche sind kolossal wie das „Werk 3“, das mit seinem Industriecharme an seine frühere Funktion als Produktionsgebäude für den Kartoffelverarbeiter Pfanni erinnert. Andere fallen erst auf den zweiten Blick auf, wie die noch immer im Asphalt liegenden Schienen, auf denen die Pfanni-Lok einst Knödel transportierte. Die Überbleibsel zeigen: Pfanni-Erbe Werner Eckart, dem nach wie vor Teile des Areals gehören, pflegt die Familien- und Firmengeschichte intensiv.
Die Zeit ist in dem außergewöhnlichen Viertel aber nicht stehen geblieben. Im Gegenteil: Das Quartier wandelt sich ständig. Was in der Nachkriegszeit Standort der Pfanni-Produktion und später Münchens Party-Hochburg war, zuerst als Kunstpark Ost und dann als Kultfabrik, ist heute das Werksviertel-Mitte, das Wohnen, Arbeiten, Gastronomie und Kultur kombiniert. Eckarts Credo: kein Gebäude soll nur eine Nutzung haben – und sich ständig wandeln lassen. Das Werksviertel-Mitte, 2023 ausgezeichnet mit dem Deutschen Städtebaupreis, soll so auch für künftige Generationen ein lebens- und liebenswerter Ort sein. Um das Gelände Urenkel-tauglich zu machen, brauche es vor allem eines: Nachhaltigkeit.
Diese Philosophie verkörpert Harry Gruber, der im „Container Collective“, einer Pop-up-Stadt aus 39 ausrangierten Schiffscontainern, seinen Verein „Grüne Tomaten Food Rescue“ betreibt. In seinem Container stapeln sich Kisten voller Obst und Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern. Verbeulte Pflaumen, Ananasse mit fleckigen Blättern, etwas zu weiche Kiwis. Für Großmarkhändler Abfall, doch in den Händen des 58-Jährigen wirken sie kostbar. Tonnenweise rettet er sie davor, im Biomüll zu vergammeln, und verkauft sie für zwölf bis 15 Euro in sogenannten Rescue Boxen. Was übrig bleibt, verteilt er jeden Samstag kostenlos an Bedürftige.
Als Gruber „Grüne Tomaten“ vor viereinhalb Jahren gründete, stellte sich die Frage nach dem Standort. Durch einen Tipp seiner Mutter kam er auf das „Werksviertel-Mitte“. „Das war für uns der Jackpot“, sagt der Koch. Am vor Touristen wimmelnden Marienplatz oder im teuren Schwabing würde ein Projekt wie „Grüne Tomaten“ nicht funktionieren, glaubt Gruber. In dem Quartier am Ostbahnhof hätten er und sein Team sich etwas aufbauen können. „Wir sind richtig angekommen, haben Stammkunden, man kennt sich.“
Der Großteil seiner Kunden arbeitet ebenfalls im Werksviertel und kommt in der Mittagspause oder nach Feierabend vorbei. Für sie stellt sich Gruber auch in seiner gestreiften Schürze in die Küche. Wenn er über Quinoa-Aufläufe oder Limonade aus fermentierter Grapefruit spricht, leuchten seine Augen.
Für Menschen wie Harry Gruber, die für Ideen brennen, habe man das Werksviertel gemacht, sagt Michael Meier. Er ist Geschäftsführer des 80 Meter hohen Riesenrads „Umadum“. Auch Meier erfüllt sich am Ostbahnhof einen Traum: „Chef eines Riesenrads – als Kind hätte ich gesagt, das möchte ich mal werden, gleich nach Fußballer und Astronaut“, sagt er und lacht.
Seit 2019 betreibt er das „Umadum“ neben dem „Werk 3“. Eigentlich hätte das größte mobile Riesenrad der Welt nach zwei Jahren dem neuen Konzerthaus weichen sollen. Aber der Zeitplan verschob sich immer weiter nach hinten. Im vergangenen Sommer setzte der Freistaat die Planungen auf null, um die Kosten von 1,3 Milliarden auf 500 Millionen Euro zu senken. Baubeginn? Ungewiss. Gut für Michael Meier. Für ihn steht fest: „Wir wollen hier so lange wie möglich bleiben.“ Das Riesenrad ist längst zu einem Wahrzeichen im Werksviertel geworden. Aus den 27 Gondeln, sagt Meier, könnten die Fahrgäste nicht nur auf Münchens Frauenkirche und die Alpen blicken, sondern auch auf das Werksviertel selbst. Sogar den Walliser Schwarznasenschafen auf der Stadtalm auf dem Dach des „Werk 3“ kann man beim Grasen zusehen.
Meier fühlt sich auch privat mit dem Werksviertel verbunden. „Wenn du einmal hier bist und arbeitest, lässt es dich nicht mehr los. Ich genieße das auch“, sagt er. Er schätze die Vielfalt, für jeden Geschmack und jede Altersgruppe gebe es Angebote. Die Clubs im Viertel würden alle Genres bedienen – von Rock im „Sugar Shack“ über Techno im „DNA Club“ bis hin zum „Schlagergarten“. Oder die Gastro: Egal ob australische, guatemaltekische oder thailändische Spezialitäten – im Werksviertel, sagt Meier, werde man fündig.
Vielfältige und nachhaltige Projekte wie das Werksviertel-Mitte sind für Meier die Zukunft des Städtebaus. Davon ist auch Elisabeth Merk (parteilos), seit 2007 Münchens Stadtbaurätin, überzeugt. „Im Werksviertel werden alle Nutzungen des täglichen Lebens vereint: Kultur, Freizeit, Einkaufen, Arbeiten, Erholung und selbstverständlich auch Wohnen“, lobt sie. Und das Planungsreferat habe dafür gesorgt, dass 30 Prozent der etwa 1150 Wohnungen auf dem Gelände im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus entstehen.
Aber das Münchner Preisniveau macht auch vor dem Werksviertel nicht Halt. Die Studenten Laura (21) und Adrian (22) aus Köln sind überrascht, dass die Preise in den Bars und Restaurants genauso hoch sind wie in den Bestlagen am Kölner Dom. Kritische Stimmen warnen, dass immer hochwertigere Wohn- und Gastro-Angebote einen Gentrifizierungs-Effekt im Werksviertel auslösen könnten. Laura und Adrian sind dennoch von der Grundidee überzeugt: „Hier entsteht etwas Neues und Innovatives, ohne dass das Alte komplett plattgemacht wird“, sagt Laura. „Das ist außergewöhnlich.“