INTERVIEW

„Das Leid ist nach wie vor unbeschreiblich groß“

von Redaktion

Notfallpflegerin Katja Storck über ihre Arbeit in einem Feldkrankenhaus im zentralen Gazastreifen

Die Krankenhäuser im Gazastreifen sind überfüllt. Immer wieder muss das Personal Patienten abweisen. © Abu Elsebah/dpa

München – Katja Storck (31) ist als Notfall-Pflegerin von Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen im Einsatz. Bei ihrer Arbeit in einem Feldkrankenhaus in Deir al-Balah erlebt sie täglich die dramatische humanitäre Lage, die trotz des Friedens-Deals schwierig bleiben wird.

Sie waren bereits im Sommer mit Ärzte ohne Grenzen in Deir al-Balah und sind jetzt wieder dort. Was motiviert Sie, im Gazastreifen zu helfen?

Gerade die Arbeit mit den Kollegen vor Ort ist wahnsinnig bereichernd. Sie schaffen es, trotz allem, was um sie herum passiert, jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Obwohl sie vielleicht Familienmitglieder oder Freunde verloren haben, in Zelten leben und hungern, geben sie für jeden einzelnen Patienten 100 Prozent. Für mich war von Anfang an klar, mit diesen Kollegen würde ich immer wieder zusammenarbeiten. Hinzu kommt, dass das Leid in Gaza nach wie vor unbeschreiblich groß ist und es viel zu tun gibt.

Wie schaffen es Ihre palästinensischen Kollegen, unter diesen Umständen jeden Tag weiterzuarbeiten?

Viele sagen, dass die Arbeit ihnen einen Sinn gibt. Sie ist ein Grund, jeden Tag aufzustehen. Der „normale“ Alltag ist in Gaza komplett zum Erliegen gekommen, es gibt kaum noch Geschäfte, die meisten Menschen haben ihre Jobs verloren. Deshalb sind viele unserer palästinensischen Kollegen froh, überhaupt noch eine Stelle zu haben. Natürlich ist es auch so: Wer arbeitet, hat mehr Geld zur Verfügung und kann seiner Familie am Ende des Tages noch etwas zu essen kaufen. Ein Kollege von uns versorgt mit seinem Gehalt im Durchschnitt 15 bis 20 Personen.

Wie hat sich die humanitäre Lage seit Ihrem letzten Besuch in Gaza verändert?

Nach meinem letzten Besuch dachte ich, es kann eigentlich gar nicht mehr schlimmer werden. Doch die Großoffensive auf Gaza-Stadt hat die Situation noch einmal verschärft. Tausende fliehen seitdem aus dem nördlichen Gazastreifen. Hier in Deir al-Balah wissen die Menschen gar nicht, wo sie ihre Zelte aufstellen sollen, weil es einfach keine freien Flächen gibt. Der Strand ist so voll, dass gar kein Sand mehr sichtbar ist.

Hat das Auswirkungen auf die Versorgungslage?

Dadurch dass so viele Menschen gekommen sind, muss die Menge an Nahrungsmitteln und sauberem Wasser für eine größere Population reichen, was sehr schwierig ist. Im Norden war die Versorgungslage in den vergangenen Monaten noch schlechter, deshalb sehen wir mit der Ankunft der Geflüchteten auch einen Anstieg der Patienten mit Mangelernährung oder infizierten Wunden.

Woran mangelt es bei Ihnen im Feldkrankenhaus?

Wir haben einen großen Mangel an chirurgischen Instrumenten, die wir brauchen, um Operationen durchzuführen. Auch bei den Gerätschaften wird es kritisch: Sie laufen seit zwei Jahren ohne Pause, es ist heiß und staubig. Wenn etwas kaputtgeht, haben wir keinen Ersatz. Medikamente werden ebenfalls knapp, vor allem die für Menschen mit Diabetes und Bluthochdruck sind absolute Mangelware. Diese Krankheiten existieren im Krieg natürlich weiter, wir haben aber aufgrund der Versorgungslage Schwierigkeiten, die Patienten richtig einzustellen. Deshalb sehen wir mehr Komplikationen. Oft müssen wir Patienten auch wegschicken und sagen: „Wir haben keine Medikamente.“

Wie reagieren die Patienten darauf?

Manche sind bereits resigniert und sagen: „Das höre ich jetzt schon zum zehnten Mal.“ Andere sind absolut verzweifelt und fragen, wo sie sonst noch hingehen können. Gerade für Diabetiker kommt es einem Todesurteil gleich, kein Insulin zu erhalten.

Welche Krankheiten oder Verletzungen sehen sie am häufigsten?

In unserem Krankenhaus behandeln wir hauptsächlich Traumapatienten. Die meisten haben Amputationsverletzungen oder schwere offene Knochenbrüche durch Bombeneinschläge. Besonders Kinder und ältere Menschen haben schlimme Verbrennungen, da sie nicht so schnell weglaufen können. Einige haben auch Schussverletzungen, weil nach wie vor bei den Essensausgaben der Gaza Humanitarian Foundation geschossen wird. Das sehen wir täglich.

Können Sie Patienten länger behandeln?

Im Schnitt sind Patienten ungefähr zehn Tage bei uns. In einem funktionierenden Gesundheitssystem würde man aber niemals derart schwer verletzte Menschen entlassen, wie wir es manchmal müssen. Letzte Woche hatten wir zum Beispiel ein 13-jähriges Mädchen bei uns. Eines ihrer Beine mussten wir unterhalb des Knies amputieren, der andere Fuß war kompliziert gebrochen. Sobald ihre Verletzung verheilt war und sie gelernt hatte, mit Krücken zu laufen, mussten wir ihr Bett an einen neuen Patienten vergeben. Das wäre woanders undenkbar. Es gibt auch viele Menschen, die beide Beine verloren haben. Wir haben keine Rollstühle für sie, das heißt, sie werden auf Eselkarren in ihre Zelte gebracht.

Wie steht es um die hygienischen Bedingungen?

Viele unserer Patienten bekommen Infektionen, da wir sie wegen des Bettenmangels sehr nah aneinanderschieben müssen. Die grundsätzliche Mangelernährung und generelle Schwächung der Menschen erhöhen ebenfalls das Infektionsrisiko. Wir versuchen, jeden Tag Verbandswechsel durchzuführen, müssen aber auch immer abwägen, ob noch genügend Vorräte auf Lager sind. Sonst sagen uns die Apotheken, sie kommen bei unserem Verbrauch an Verbandszeug nicht hinterher.

Einer Ihrer Kollegen wurde Anfang Oktober bei einem israelischen Luftangriff getötet. Befanden Sie sich bereits in Lebensgefahr?

Das ist schwer zu sagen, die Bombeneinschläge sind teilweise sehr nah.

Wie wirkt sich das auf die Psyche aus?

Besonders die Kinder haben Angst. Wenn sie die Drohnen hören, fangen sie an zu weinen. Um sie abzulenken, haben wir einmal eine lokale Clown-Gruppe eingeladen. Es war einerseits sehr schön, sie lachen zu sehen. Andererseits steht man dann in einem Raum mit Kindern, die keine Arme und Beine oder entstellende Verbrennungen haben, und es ist eigentlich todtraurig.

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