Nach 738 Tagen wieder frei: Zwei Jahre lang hielt die Hamas Schauspieler David Cunio (35) im Tunnelsystem des Gazastreifens gefangen. © AFP
Ein „Selfie“ mit der Familie: Die Hamas entführte Eitan Mor (Mitte) am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival. © AFP
Wieder vereint: An unterschiedlichen Orten hielten die Islamisten der Hamas die Zwillingsbrüder Gali und Ziv Berman fest. © dpa
Die Zeit des Bangens ist vorbei: Alon Ohel (Mitte) sitzt nach der Freilassung in der Mitte seiner Familie. © afp
München/Tel Aviv – Es ist der Moment, auf den sie Wochen, Monate, Jahre gewartet haben. Im nördlichen Gazastreifen, irgendwo im Nirgendwo, zwischen Trümmern und Sand, liegen sich die Brüder Ziv und Gali Berman in den Armen. Seit zwei Jahren haben sich die beiden 28-jährigen Männer, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, nicht gesehen. Sie wurden von der Hamas an unterschiedlichen Orten festgehalten.
Am 7. Oktober 2023 entführte die Terrororganisation die Zwillinge aus Kfar Aza – ein Kibbuz, nur zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. 64 Einwohner starben damals im Kugelhagel der Terroristen, 19 wurden verschleppt, darunter Ziv und Gali. Die Angehörigen lebten 54 Tage in völliger Ungewissheit: Sind die Geschwister noch am Leben oder befinden sie sich unter den rund 1200 israelischen Opfern des Hamas-Überfalls? Erst gegen Ende November erreichte sie die hoffnungsvolle Nachricht, dass die beiden in Gefangenschaft und „nur“ leicht verletzt sein sollen. Mit Rom Braslavski und Alon Ohel entlässt die Hamas am Montagvormittag noch zwei weitere Deutsch-Israelis in die Freiheit.
Es ist ein Tag, an dem Israel feiert. Auf dem „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv ist die Stimmung ausgelassen. Schon in den frühen Morgenstunden versammeln sich die Menschen. Sie tragen Bilder der Geiseln und schwenken blau-weiße israelische Flaggen. „Ich bin schon seit gestern Abend hier, ich bin extra aus Haifa gekommen“, erzählt der 37-jährige Daniel Colodro, der in eine Fahne gehüllt ist. Nach der Freilassung der ersten Geiseln am Morgen bricht auf dem Platz Jubel aus.
„Wir sind alle unglaublich bewegt“, sagt Danielle Aloni, die einst selbst Geisel der Hamas war. Danielle ist die Schwägerin von David Cunio, eine der 20 noch lebenden Geiseln, die die Islamisten bis Montag festhielten. Der 35-jährige Schauspieler, der 2013 sogar mit einem Film auf der Berlinale vertreten war, wurde vor zwei Jahren mit seiner Frau Sharon, seinen Töchtern Emma und Yuli sowie der Schwägerin Danielle und ihrer Tochter aus ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz entführt. Im Rahmen des ersten Waffenstillstands- und Geiselabkommens im November 2023 kam zumindest Davids Familie frei. Sein 28-jähriger Bruder Ariel und er mussten hingegen bis zum letzten der 738 Tage in den Tunneln der Hamas-Terroristen ausharren.
Sharon Cunio schrieb vor einiger Zeit einen offenen Brief, in dem sie ihren Schmerz und ihre Angst um ihren Mann zu Papier brachte: „Ich verzehre mich vor Sehnsucht nach dem Mann, den ich liebe, ohne den ich nicht leben kann“, erklärte sie in dem Schreiben. Noch bevor die Cunio-Brüder am Montag freigelassen wurden, konnten sie mit ihren Angehörigen telefonieren, so wie andere der noch lebenden Geiseln auch.
Die Familien haben für die Rückkehr ihrer Geliebten nach Israel persönliche Gegenstände vorbereitet, um den Übergang zu erleichtern. Die Mutter von Elkana Bohbot erzählt, man habe sie auf mindestens fünf Tage im Krankenhaus nach der Freilassung ihres Sohnes vorbereitet. „Aber es gibt Dinge, die man nicht vorbereiten kann.“ Stattdessen müsse man dem Herzen folgen, sagt sie.
Die ehemalige Geisel Omer Schem Tov berichtet dem Sender N12 von den ersten Momenten nach seiner Freilassung bei der letzten Waffenruhe zu Jahresbeginn. „Ich war 450 Tage lang allein“, sagt er. Er sei hungrig nach körperlicher Nähe gewesen. Eine israelische Offizierin sei damals die Erste gewesen, die ihn in die Arme genommen habe. „Diese Umarmung werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“
In Tel Aviv ist am Tag der Geiselübergabe die große Dankbarkeit gegenüber US-Präsident Donald Trump spürbar, der Israel und die islamistische Terrororganisation dazu gebracht hat, die Waffen schweigen zu lassen. Ein Mann zieht sogar einen Einkaufswagen voller US-Flaggen über den Platz, die er dort verkauft.
Doch es gibt Familien, deren Angehörige nicht mehr lebend zurückkommen werden. Teil der Vereinbarung ist auch die Übergabe der letzten 28 toten Geiseln. Gestern wurden aber nur vier übergeben. Die größte Sorge der Angehörigen ist, dass die Leichen in den Trümmern des zerstörten Gazastreifens nie gefunden werden.
Vereinbart ist, dass, wenn die Hamas erfolglos bleibt, ein internationaler Suchtrupp die Leichen finden soll. Bis dahin sollen die Proteste auf dem Platz der Geiseln weitergehen. „Alle müssen zurückgebracht werden – die Toten und die Lebenden“, fordert Daniel Colodro. „Wir können jetzt nicht aufhören.“