Ein Desaster: Zwei Waggons stürzten damals um, darin kamen Menschen zu Tode. © afp
Rückblick auf den Tag nach dem Unglück: Die Aufräumarbeiten haben begonnen. Nun beginnt auch die juristische Aufarbeitung. © Dominik Bartl
Wie viel Schuld trifft sie? Der Fahrdienstleiter (links) und der Fahrbahn-Zuständige der DB (rechts) stehen vor Prozessbeginn mit ihren Anwälten zusammen im Gerichtssaal. © Peter Kneffel/dpa
München – Stellt man sich so Schuldige an einem schweren Zugunglück vor? Die beiden Angeklagten sind langjährige Eisenbahner, bodenständig, beide geboren in Murnau, vor Gericht erscheinen sie im Lodenjanker. Ordentliche Leute, so hat es den Anschein, und nun fassungslos über das, was sie angerichtet haben – oder haben sollen. Als die Staatsanwältin 40 Minuten lang die Anklage verliest, hören sie fast regungslos zu. Der Anfang ist auch für unbeteiligte Zuhörer schwer erträglich, geht es da doch um die Verletzungen der fünf Toten und 72 zum Teil schwer Verletzten. Halswirbelverletzungen, offene Unterschenkelbrüche, Schädel-Hirn-Trauma und noch viel Schlimmeres – das verliest die Staatsanwältin gut zehn Minuten lang. Das Bahnunglück, das wird sofort klar, hat für viele Menschen sehr schwere Folgen, an denen sie teils monatelang laborierten.
Nach Krebserkrankung zurück im Dienst – und dann so was
Sind daran die beiden wegen fahrlässiger Tötung angeklagten Bahnmitarbeiter schuld? Alleine schuld? Das nimmt selbst die Staatsanwaltschaft nicht an, wie rasch deutlich wird. Es gab bereits im November 2024 eine Vorbesprechung der Prozessbeteiligten, Verfahrenserörterung nennen das die Juristen. Eine „gewisse Betriebsblindheit“ und allgemein „Mängelverwaltung“ bei der Bahn hält die Staatsanwaltschaft auch den Angeklagten zugute. Das könnte sich strafmildernd auswirken. Aber es gibt eben auch sehr konkrete Vorwürfe, für die sich die beiden Eisenbahner verantworten sollen. Fahrdienstleiter M. hatte erst am 1. Juni 2022 – zwei Tage vor dem Unfall – nach längerer Krebserkrankung seinen Dienst wieder aufgenommen. Der heute 66-Jährige ist noch Beamter bei der Bahn, ging nach seinem Hauptschulabschluss mit 14 Jahren direkt zur damaligen Bundesbahn. Rangierdienst, Stellwerker, Fahrdienstleiter – und kurz vor der Pensionierung, kurz nach einer erneuten mehrwöchigen Erkrankung, dann dieser schreckliche Unfall. Die Staatsanwaltschaft hält ihm insbesondere den Funkspruch eines Lokführers vor, der ihm am Abend des 2. Juni 2022 vor einem „Gleislagefehler“, einem „Schlenkerer“ auf der Strecke warnte. Da hüpfe der Zug richtig, hieß es. Diese Information habe M. ignoriert.
Zwar war die Warnmeldung nicht ganz regelkonform – korrekterweise hätte der Lokführer wohl auf einen „Mangel am Oberbau“ hinweisen müssen. Aber es ist laut Regelwerk für Fahrdienstleiter auch Pflicht, Gefahren zu erkennen und „gefährliche Ereignisse“ zu melden. M. ergreift selbst das Wort, er schluckt einmal, Tränen fließen, es fällt ihm schwer zu reden. „Diese Meldung“, sagt er dann, „habe ich aber nicht so verstanden, dass eine sofortige Reaktion erforderlich ist.“ Er habe sich zwar vorgenommen, den Warnhinweis später weiterzugeben, das auch auf einem Zettel notiert. Aber: Die Weitergabe an die Gleis-Verantwortlichen („Für die Entstörungsveranlassung zuständige Stelle“, heißt es im Bahndeutsch) versäumte er. „Ich habe solche Schuldgefühle.“ Aber hätte es überhaupt etwas geändert, wenn er die Meldung am Vorabend, nicht einmal 24 Stunden vor dem Unglück weitergegeben hätte? Die Verteidigung bezweifelt das angesichts der langen Meldeketten bei der Deutschen Bahn und beruft sich dabei auf das Gutachten der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung. Außerdem: Nach der Erstmeldung des Lokführers fuhren noch 28 weitere Züge über die Unglücksstelle, sagt der Anwalt, ohne dass ein weiterer Lokführer eine Unregelmäßigkeit funkte.
Komplexer dürften die Nachforschungen im Fall des zweiten Angeklagten werden: S., heute 58 Jahre alt, war Bezirksleiter Fahrbahn mit Anlagenverantwortung und somit zuständig für die Garmischer Strecke. Ihm hält die Staatsanwältin vor, sich nicht um schadhafte Betonschwellen gekümmert zu haben. Sie führten nach ihrer Überzeugung zum Unglück. Die Schwellen, die die beiden Schienenstränge am Gleis verbinden, waren schadhaft, brüchig, durch sogenannten Betonfraß wohl teilweise regelrecht zersetzt. Das haben Gutachten ergeben. S. setzt seine Brille auf und verliest eine Erklärung. Auch er ist gleich nach der Mittleren Reife am Gymnasium Weilheim zur Bahn gegangen, Abteilung Tiefbau, dann Oberbau. 2016 hatte er sich zum Bezirksleiter Fahrbahn hochgearbeitet.
Drei Fehlerstufen für beschädigte Gleisschwellen
Vor Gericht zeigt er sich zerknirscht, spricht Hinterbliebenen und Verletzten sein Mitgefühl aus. „Jeden Morgen, jeden Tag denke ich an den Unfall.“ Er hätte beschädigten Schwellen „mehr Aufmerksamkeit schenken müssen“, sagt er selbstkritisch. Er habe da was „aus den Augen verloren“.
Schon in der Anklage wird allerdings deutlich, wie kompliziert das mit den Schwellen bei der Bahn war – und vielleicht noch ist. Eine beschädigte Schwelle ist nicht einfach beschädigt, nein, es gibt drei Kategorien: FS (Fehlerstufe) 1 ist die schwerste, danach muss eine Schwelle innerhalb von zwölf Wochen ausgetauscht werden. Es gibt aber auch FS 2 und 3 – weniger schwer. Der Prozess wird sich auch darum drehen, in welcher Fehlerstufe S. die kaputten Schwellen einsortiert hat – oder hätte müssen. Die Bahn hat ihr Regelwerk nach dem Unglück verschärft.
Der Prozess soll bis in den Januar hinein andauern, doch vielleicht wird das Garmischer Unglück die Justiz noch sehr viel länger beschäftigen: Parallel dazu hat die Staatsanwaltschaft München II nun auch Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts „einer Aufsichtspflichtverletzung“ gegen einen Bahnmanager der damaligen DB Netz (heute DB InfraGo) aufgenommen, wie sie auf Anfrage mitteilt. Außerdem werde gegen die DB InfraGo als solche ermittelt – in beiden Fällen nach dem Ordnungswidrigkeiten-Gesetz. „Die Ermittlungen befinden sich aktuell noch in einem sehr frühen Stadium.“
Ein Bahnunglück als Ordnungswidrigkeit – das klingt absonderlich. Aber vielleicht ist das ja die einzige juristische Krücke, um den Konzern als solchen auch in die Pflicht zu nehmen.