Begleiter gegen die Einsamkeit

von Redaktion

Viele Senioren schaffen es allein nicht mehr zum Grab ihrer Angehörigen, Menschen wie Leo Urlaub helfen

Yasemin Duman koordiniert die Friedhofsfahrten. © Schlaf

Das Fahrzeug darf auch auf den Friedhof fahren. © Schlaf

Ohne ihn wäre es ein noch schwererer Gang: Leo Urlaub hat Rosemarie Hernaut bis ans Grab ihres Mannes gefahren. Gemeinsam zünden sie eine Kerze an, dann zieht sich Urlaub zurück, um der 83-Jährigen Privatsphäre zu geben. © Marcus Schlaf

München – Dieser goldene Herbsttag ist ein besonderes Datum für Rosemarie Hernaut. Die weißblonde, gepflegte Frau wird heute 83 Jahre alt. Sie lächelt etwas unschlüssig, denn ihr Geburtstag ist von traurigen Gedanken begleitet. Vor eineinhalb Jahren ist ihr Mann Kruno nach langer Krankheit gestorben. Daher hat sie einen Herzenswunsch: „Ich will unbedingt an meinem Geburtstag zum Grab gehen.“

Allein aber würde die Seniorin den Weg von Thalkirchen zum Münchner Waldfriedhof nicht schaffen. Selbst wenn sie ein Taxi nähme: Vom Haupteingang des Friedhofs müsste sie noch eine gute halbe Stunde zu Fuß durch die Gräberreihen gehen. Doch ihre Beine sind zu schwach. „Ich habe auch nur noch weniger als zehn Prozent Sehkraft.“ Sie müsste drei, vier Pausen einlegen. „Es ist eine Tortur für mich.“

Dass ihr Geburtstagwunsch in Erfüllung geht, dafür sorgt ein ehrenamtlicher Dienst des Evangelischen Bildungswerks München (ebw). Sieben Männer und drei Frauen stehen bereit, um ältere Menschen mit einem speziell ausgestatteten Fahrzeug auf den Friedhof zu begleiten. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: „Wir haben eine Einfahr-Erlaubnis, können bis zum Grab fahren“, berichtet Leo Urlaub (62), der seit drei Jahren ein- bis zweimal die Woche ältere Menschen daheim abholt, ihnen zuhört, sie tröstet und sicher nach Hause bringt.

„Es gibt für mich nichts besseres als diesen Dienst“, freut sich Rosemarie Hernaut. Einmal im Monat können Menschen mit Einschränkungen das kostenlose Angebot der Evangelischen Kirche in Anspruch nehmen. An jedem Wochentag gibt es zwei Fahr-Termine: Morgens um 10 Uhr und nachmittags um 14 Uhr. „Ich hab dort angerufen und gleich gesagt, ich bin katholisch – ich weiß gar nicht, ob ich das machen darf“, erinnert sich Rosemarie Hernaut. Doch das ist unerheblich. Egal ob evangelisch, katholisch, muslimisch, jüdisch oder nicht gläubig: „Es kann sich jeder melden“, sagt Yasemin Duman, die den Einsatz mit ihrer Kollegin Heike Trausch (54) koordiniert.

Die 43-jährige Muslima mit einem riesigen Herzen nimmt den Menschen schon am Telefon die Scheu, die Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihre großen, braunen Augen strahlen, wenn sich die Anrufer freuen, dass man ihnen über die für sie unüberwindbaren Hürden zum Grab ihres geliebten Angehörigen hilft. Ein Erstgespräch kann schon mal 20 Minuten dauern, sagt Heike Trausch. Manchmal sind Menschen am Apparat, die seit Tagen mit niemandem gesprochen haben.

Vor einem Jahr hat das Evangelische Bildungswerk diese Aufgabe übernommen, die zuvor seit 2010 bei der Altenheimseelsorge angesiedelt war. Aktuell gibt es 115 Fahrgäste in der Datenbank. Yasemin Duman ist nicht so streng mit der Zuteilung. „Wenn jemand in einem Monat den Geburtstag und den Todestag hat, darf der auch zweimal gefahren werden.“

Leo Urlaub reicht Rosemarie Hernaut auf dem Waldfriedhof den Arm, führt sie an tückischen Wurzeln vorbei zur Grabstelle. „Ich möchte jetzt gerne etwas allein sein mit meinem Mann“, bittet die Thalkirchnerin. Der Fahrer hilft ihr, sich auf den mitgebrachten Klapphocker zu setzen, und zündet mit ihr eine dicke Kerze an. Dann zieht er sich diskret zurück, bis die Zwiesprache zwischen Rosemarie und Kruno beendet ist.

Offenheit im Umgang mit Menschen ist eine der Voraussetzungen für die Helfer. Und ein Gespür dafür, was Trauernde brauchen. Vor 14 Jahren erkrankte Urlaubs Vater an Demenz. Der Sohn stieg aus dem Job aus und half bei der Pflege mit, bis der Vater ins Heim kam. Auch dort kümmerte er sich regelmäßig um ihn und stellte fest, „dass ich auch mit älteren Menschen gut umgehen kann“. Daraus entwickelte sich der Wunsch, sich neben dem Computer-Job ein zweites Standbein aufzubauen. So kam Urlaub zur Altenheimseelsorge und zu den Friedhofsfahrten.

Alles ist gut vorbereitet: Die Fahrer haben Pläne von allen Münchner Friedhöfen, das Auto verfügt über einen schwenkbaren Beifahrersitz, sodass auch Rollstuhlfahrer transportiert werden können. Die einzige Voraussetzung ist, dass die Fahrgäste selbstständig ein- und aussteigen können. „Unsere Ehrenamtlichen sind kein Pflegepersonal, das die richtigen Griffe kennt. Das sind auch alles Rentner“, sagt Duman.

Flexibilität zeichnet diesen Dienst aus, der ein seelsorglicher Einsatz ist. „Wir sind kein Taxiunternehmen“, schmunzelt Urlaub. „Wir nennen es Fahren und Begleiten.“ Behutsames Nachfragen nach den Verstorbenen zählt dazu, aufmerksames Hören auf die Sorgen und Nöte. Es kommt aber vor, dass auf dem Weg zum Friedhof noch Pflanzen fürs Grab besorgt werden. „Die Fahrer machen auch schon mal den Grabstein sauber, wenn die alte Frau sich nicht mehr bücken kann“, sagt Yasemin Duman. Im Auto sind für alle Fälle eine Gießkanne, ein Besen, Grabkerzen deponiert.

Ein 92-Jähriger, den Leo Urlaub schon mehrfach gefahren hat, rührt ihn besonders an. „Der Mann sitzt auf seinem Rollator und schaut verliebt wie am ersten Tag das Bild seiner Frau auf dem Grabstein an. Da geht einem schon das Herz auf.“ Für viele Fahrgäste sei die Tour zum Friedhof „das Highlight des Monats“: „Sie kommen raus, können mit jemandem sprechen und kommen in die Nähe ihres geliebten Verstorbenen.“ Der Dienst ist für die Fahrgäste kostenlos. Zwischen Fahrer- und Beifahrersitz klemmt aber eine Spendenbox. Wer möchte, kann Geld als Dank stiften.

Nach einer Viertelstunde hilft Leo Urlaub der 83-Jährigen vom Hocker auf. Rosemarie Hernaut bleibt noch eine Weile am Grab stehen. Sie erzählt von ihrem Mann, den gemeinsamen Reisen, wie sehr er ihr fehlt. Es wird gelacht über schöne Erinnerungen. Auf dem Weg zurück nach Hause freut sich die Thalkirchnerin auf ihre Kinder und Enkel. Erleichtert darüber, dass sie es doch zum Grab ihres Kruno geschafft hat. Jetzt kann Geburtstag gefeiert werden.

Der Fahrdienst

Menschen mit körperlichen Einschränkungen können sich beim Evangelischen Bildungswerk melden. Per Telefon 089/55 25 80 80 oder E-Mail an friedhofsfahrten@ebw-muenchen.de

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