München war ein Abenteuer: Orazio Vallone (80) arbeitet heute in der Pilzberatungsstelle. © Yannick Thedens
Kurz vor der Abreise nach Deutschland im Jahr 1961: Eleni (rechts) und Emmanuel Tsakmaki.
Mittagspause im Speisesaal 1969: Eleni (Mitte) mit ihren Kolleginnen im Schwabinger Krankenhaus.
„Der Trennungsschmerz war ganz schlimm“: Die Griechin Eleni Tsakmaki heute in ihrem Münchner Zuhause. © Marcus Schlaf
Sie kamen als Gäste, um in Deutschland zu schuften – viele blieben und wurden zu Freunden. Ohne sie wäre München nicht München: die vielen Gastarbeiter. Das Wirtschaftswunder wäre nicht möglich gewesen, unsere Stadt, unser Land kulturell ärmer. Ende 2025 jährt sich das erste Anwerbeabkommen für Arbeiter zwischen der Bundesrepublik und Italien zum 70. Mal. Ehemalige Gastarbeiter oder deren Nachkommen berichten, wie sie hier eine neue Heimat fanden.
Eleni Tsakmaki
Im ersten Winter in Deutschland hat sie Fotos von ihren kleinen Kindern an den Christbaum gehängt, sagt Eleni Tsakmaki. Um den Schmerz erträglicher zu machen, um sich ihnen ein bisschen näher zu fühlen. Sie war alleine mit ihrem Ehemann in einer Einraumwohnung im kalten Deutschland. Ihre beiden Kinder bei den Großeltern weit weg in Griechenland. Nur über Briefe waren sie in Kontakt. „Dieser Trennungsschmerz von den Kindern, der Familie, der Heimat, das war ganz schlimm“, erinnert sich die 87-Jährige.
Ihre Kinder musste sie zurücklassen, als sie 1961 mit 22 Jahren von Griechenland nach Deutschland aufbrach – ohne Sprachkenntnisse, dafür mit einem einjährigen Arbeitsvertrag in der Hand. Die Bundesrepublik hatte im Jahr zuvor ein Anwerbeabkommen mit Griechenland abgeschlossen. Für Tsakmaki, die in ihrem Land nur die Grundschule besucht hatte, eine große Chance. Die Lage in ihrem Land war schwierig: „Ich musste viel miterleben, zuerst den Bürgerkrieg, dann die pure Armut.“ Im nordgriechischen Katerini, wo sie aufwuchs, gab es kaum Verdienstmöglichkeiten. „Ich dachte mir, dann arbeite ich halt ein paar Jahre in Deutschland. Dann kehre ich zurück und kann meiner Familie ein besseres Leben bieten.“ Es kam anders.
Mit ihrem Ehemann, mit dem sie seit ihrem 17. Lebensjahr verheiratet war, reiste sie nach Deutschland. Vier Tage mit Zug und Schiff. An einem Sommertag 1961 kam sie in München an. Dann ging es für sie erst mal nach Mühlacker (Baden-Württemberg), wo sie in einer Metallfirma anheuerte. Es begannen Jahre des Schuftens im Akkord: sechs Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Für knapp drei Mark die Stunde. Und immer blieb der Traum von der Heimat: „Mein Körper saß an der Maschine, meine Gedanken waren in Griechenland.“ Ständig mit der Frage: „Wie geht’s meinen Kindern?“
1967 kehrten beide zurück nach Griechenland. Doch ihr Plan, dort ein besseres Leben zu beginnen, scheiterte. „Mein Mann fand einfach keine Arbeit, um die Familie zu ernähren.“ Nur wenige Monate später reisten sie wieder nach Deutschland, diesmal nach München. Sie fand eine Anstellung in der Kantine im Schwabinger Krankenhaus. Der Neustart sei schwierig gewesen, mehrmals mussten sie die Wohnung wechseln. Doch sie blieben, holten die Kinder nach. München wurde ihr Zuhause. Ihre Erlebnisse verarbeitete Tsakmaki später in Büchern und Theaterstücken.
Orazio Vallone
Es war der Traum von der großen weiten Welt, der Orazio Vallone nach München führte. Doch zunächst einmal musste er sich ein Zimmer in Giesing mit elf anderen Italienern teilen, 18 Monate lang. Orazio Vallone war 19 Jahre, als er im Jahr 1964 nach München aufbrach. Er folgte seinem Vater, der bereits als Gastarbeiter hier lebte.
Als Vallone am Hauptbahnhof ankam, habe dieser bereits mit seinem Fiat auf ihn gewartet, erinnert sich der heute 80-Jährige. Ein bisschen wie daheim – doch das war es nicht, Sizilien war weit weg. Vallone war dort in einem kleinen Bergdorf aufgewachsen. „Doch irgendwann wollte ich einfach weg, in die Stadt ziehen und was erleben.“ München erschien ihm wie ein Abenteuer.
Schon wenige Tage nach seiner Ankunft ging es an die Arbeit. Vallone schuftete im Lager der Firma Mannesmann. Rund 400 Mark gab’s im Monat. „Ursprünglich wollte ich mir einen Mercedes kaufen. Am Ende kam ich nicht mal mit einem Fiat zurück“, sagt er. Stattdessen verliebte er sich. „Ich lernte ein junges Madl kennen – vier Jahre jünger als ich.“
Doch nach 18 Monaten in Deutschland zog Vallone zurück nach Italien. Aber die Gedanken an seine Liebe ließen ihn nicht los. Jahre später kam er zurück nach München, heiratete sie und blieb. „München ist meine Heimat geworden, in Italien bin ich nur noch Tourist.“
Carmine Bussone
Eigentlich war München nur eine Zwischenstation. Carmine Bussones Plan war es, im Jahr 1956 in die USA weiterzureisen. Doch für den Mann aus der Nähe der italienischen Großstadt Neapel kam es anders: „Auf der Durchreise blieb er am Großmarkt hängen“, sagt sein Sohn Gennaro Bussone. Ein Freund der Familie hatte dort einen Gemüsehandel. „Das gefiel meinem Vater so gut, dass er blieb.“
Einige Jahre lang arbeitete Carmine Bussone dort. Dann machte er sich selbstständig. Irgendwann kehrte er noch mal nach Italien zurück, um zu heiraten. Doch er blieb nicht lange, es zog ihn zurück nach Bayern: „Er versprach seinem Schwiegervater, nur drei Jahre zu bleiben und dann wieder heimzukommen“, sagt sein Sohn. Daraus wurden am Ende 50 Jahre. Er gründete eine Familie, bekam Söhne. Doch für viele seien sie die „Ausländer“ geblieben, sagt sein Sohn heute. „Wir waren geduldet, aber nicht geliebt.“ Dennoch arbeiten sie sich hoch, 1992 kam dann das eigene Restaurant am Großmarkt – es besteht bis heute. JULIAN LIMMER