9. November – Schicksalstag der Deutschen

von Redaktion

Das Ende der Mauer: In der Nacht zum 10. November erzwingen DDR-Bürger friedlich die Öffnung der Übergänge. © epd

Pogromnacht: Jüdinnen werden tags darauf zur Schau gestellt. Man schneidet ihnen die Haare ab. © pa

Robert Blum wird am 9. November 1848 hingerichtet. © epd

Novemberrevolution 1918: Die alte monarchistische Staatsordnung wird hinweggefegt. Kaiser Wilhelm II. dankt ab. © epd

München – Der Morgen graut am 9. November 1848 über einem Truppenübungsplatz in Wien-Brigittenau. Soldaten führen einen Mann herbei, stellen sich vor ihm auf, heben die Gewehre. „Ich sterbe für die deutsche Freiheit“, sagt der Mann. Dann krachen die Schüsse. Der Erschossene ist Robert Blum, Abgeordneter des ersten deutschen Parlaments, der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Als Abgeordneter ist er eigentlich immun und darf nicht verurteilt, geschweige denn hingerichtet werden. Die Fürsten aber scheren sich nicht ums Recht. Sie wollen die Märzrevolution von 1848 niederschlagen und gebrauchen dazu Gewalt.

Blums Tod ist das erste einer Reihe von Ereignissen, die über Jahre hinweg an einem 9. November deutsche Geschichte prägen sollten: die Märzrevolution 1848 und die Novemberrevolution 1918; der Hitler-Ludendorff-Putsch war am 9. November 1923, die Novemberpogrome am 9. November 1938 und der Fall der Mauer am 9. November 1989 (siehe auch Kasten).

Es mag so wirken, als könne die Reihe von Ereignissen am immer gleichen Tag kein Zufall sein. Ist aber so, sagt der Marburger Historiker Martin Göllnitz. „Es gibt keine Zwangsläufigkeit dieser Geschehnisse.“ Allerdings hätten manche dieser historischen Prozesse einen inneren Zusammenhang gehabt. Der gescheiterte Putsch 1923 etwa habe die 1918 geschaffene Republik abschaffen wollen. „Die Nazis sprachen ja immer von Novemberverbrechern, da lag ein Termin im November für den Putsch nahe“, so Göllnitz. Dass es der 9. November wurde, sei allerdings wieder Zufall gewesen.

Die Münchner Zeithistorikerin Isabel Heinemann, Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte, erkennt drei Punkte, die allen Ereignissen gemein sind. „Es geht dabei immer um ein Ringen um die Staatsform und deren Ausgestaltung. Es geht zugleich auch immer um politische Gewalt.“ Der dritte Punkt laut Heinemann: „Medien spielen eine ganz entscheidende Rolle.“ Die Berichterstattung durch Bilder, Tondokumente oder Flugblätter habe die Ereignisse verstärkt.

Als Beispiel nennt die Historikerin den Mauerfall. Das DDR-Politbüromitglied Günter Schabowski hatte in einer Pressekonferenz die innerdeutsche Grenze für offen mit sofortiger Wirkung erklärt. Seinen Satz hörten via „Tagesschau“ Millionen Menschen, auch in der DDR. Tausende eilten daraufhin zur Berliner Mauer, Die Grenzer gaben dem Druck der Massen nach und öffneten tatsächlich die Schlagbäume. Als dann – wieder in der „Tagesschau“ – Ostdeutsche interviewt wurden, die durch die abendlichen Straßen West-Berlins spazierten, kamen noch mehr über die Grenze. Das Ereignis wurde so unumkehrbar. Der 9. November 1989 ist in der Reihe der Geschichtsereignisse das einzige Datum, an dem keine Gewalt ausbrach.

Göllnitz betont, dass auch nicht alle anderen Ereignisse von vornherein auf Gewalt ausgelegt waren. Bei jenen der Nazis sei die Gewaltabsicht am offensichtlichsten gewesen. Die Abdankung des Kaisers 1918 aber habe sogar Gewalt entgegenwirken sollen, sagt er: „Erst mit dem Spartakusaufstand wird es gewalttätig.“

Das Datum 9. November zeigt auch, was Menschen in Deutschland erdulden mussten, die sich für die Freiheit einsetzten. Der Abschiedsbrief Robert Blums an seine Frau, in der er aus seiner Zelle heraus schreibt, wie er seine Henker nahen hört, ist ein ergreifendes Dokument. Zugleich führt das Datum die Exzesse vor Augen, die im Namen Deutschlands verübt wurden. Der 9. November steht aber auch für das Glück, dass der Zusammenbruch der DDR friedlich blieb, obgleich die SED-Spitze durchaus überlegte, Gewalt anzuwenden. Mehrfach kam daher in der Vergangenheit die Forderung auf, diesen Tag zum Nationalfeiertag zu machen.

Historiker gegen offiziellen Feiertag

Historikerin Heinemann sieht das anders. „Ich halte es für richtig, dass dieser Tag kein offizieller Feiertag ist.“ Denn dies berge das Risiko, dass das Gedenken an den Mauerfall das Gedenken an die Pogrome überlagert. Der Tag dürfe nicht in Gedenkritualen erstarren. Man müsse sich im Gegenteil immer mit seinen Ereignissen auseinandersetzen, und zwar auch schmerzhaft – beispielsweise mit der Tatsache, dass bei den Novemberpogromen 1938 ein Großteil der Bevölkerung still blieb und sich bis zu zehn Prozent an Gewaltaktionen beteiligten, plünderten oder den Gewalttätern applaudierten.

Göllnitz argumentiert ebenfalls gegen einen Nationalfeiertag 9. November. Dieser Tag habe ein „Doppelgesicht“, sagt der Historiker: „Der 9. November 1989 würde vielleicht das verlieren, wofür er steht, seine Hoffnung, wenn wir zugleich an die Pogromnacht und den Hitlerputsch erinnern müssten.“

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