„Gott hätte nicht gewollt, dass er so leidet“

von Redaktion

Ilhan Alakara starb am 11. März 2024. Er war an Magenkrebs erkrankt. Es gab für ihn keine Chance auf Heilung. © privat

Angie Fleischmann liebte den Sport. Dann erkrankte sie an Parkinson und verlor ihre motorischen Fähigkeiten. Sie starb am 1. Juli 2022. © privat

München – In der Nacht vor ihrem Tod schläft Angie Fleischmann tief und gut. Sie hat einen intensiven letzten Traum. Ihr Mann Bernhard weiß das, weil er neben ihr liegt, nicht schlafen kann und sieht, wie sie sich im Schlaf aufrichtet und laut lacht. Dieses Lachen wird er nie mehr vergessen. Sie ist so ruhig und gefasst. Und er versucht, es auch zu sein. Ihr zuliebe.

Es ist Februar 2015, als Bernhard Schröter seiner Angie verspricht, ihr beim Sterben zu helfen. Damals lebte sie schon zwei Jahre mit der Parkinson-Diagnose. Es begann mit Schmerzen in den Füßen. Sie ging zum Neurologen – und ahnte nicht, wie viele Arzttermine folgen würden. Erst ist da viel Hoffnung. Doch die Medikamente und die ambulante Therapie schlagen nicht an. Sie nimmt eine zwölfstündige Gehirn-Operation auf sich – auch die bringt keinen Erfolg. Die Ärzte diagnostizieren ihr ein atypisches Parkinsonsyndrom. Sagen ihr, dass sie nur noch ein Jahr leben wird. Auf der Heimfahrt im Auto bittet Angie ihren Mann, ihr zu helfen, ihr Leben zu beenden, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushält. Er ringt mit sich. Dann verspricht er es ihr.

Angie Fleischmann stirbt nicht nach einem Jahr. Aber sie muss mit furchtbaren Schmerzen leben. Irgendwann helfen selbst Opiate nicht mehr. Angie war Fitnesstrainerin, der Sport war ihr Leben. „Es war das Schlimmste für sie, sich kaum noch bewegen zu können“, sagt ihr Mann heute. Immer wieder stürzt sie. Immer wieder auf dieselben Wunden. „Irgendwann war das Leiden größer als die Hoffnung.“ Von seinem Hausarzt weiß Bernhard Schröter, dass es in Berlin einen Verein gibt, der Menschen beim assistierten Suizid begleitet. Die deutsche Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS). Angie ist motorisch bereits so eingeschränkt, dass sie seine Hilfe braucht, um Kontakt aufzunehmen. Er füllt gemeinsam mit ihr den Mitgliedsantrag aus. Und schließlich den Antrag auf eine Freitodbegleitung.

Die DGHS ist einer von bundesweit drei Sterbehilfevereinen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 mit einem epochalen Urteil das Verbot der Suizidhilfe aufgehoben (siehe auch Seite 2). Heute sind mehr als 50 000 Menschen Mitglied in dem Verein. Wer die Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, muss ein halbes Jahr Mitglied sein. „Damit wollen wir verhindern, dass eine Entscheidung überstürzt getroffen wird“, sagt Sprecherin Wega Wetzel. Die Voraussetzungen für den assistierten Suizid hat das Verfassungsgericht definiert: Die Entscheidung muss frei und ohne Beeinflussung getroffen werden – und nicht aus einem Affekt heraus. Der Betroffene muss geistig gesund sein und sich mit Alternativen auseinandergesetzt haben. Antragsteller müssen frei formulieren, warum sie ihr Leben beenden möchten. Der Grund kann eine unheilbare Krankheit sein, aber auch ein Gefühl der Lebenssattheit. Juristen und Ärzte führen lange Gespräche mit den Antragstellern. Wenn es den geringsten Zweifel gibt, dass die Bedingungen erfüllt sind, wird der Antrag abgelehnt.

Die letzte Voraussetzung: Betroffene müssen die Tat selbst ausführen. Sie müssen eigenhändig eine Infusion mit einem hochdosierten Narkosemittel aufdrehen.

Angie Fleischmann weiß, dass für diesen selbstbestimmten Tod nicht mehr lange Zeit bleibt. Ihre motorischen Fähigkeiten nehmen ab. Sie bekommt von der DGHS zwei Termine zur Auswahl. Einen im April, einen im Sommer. Sie will den Frühling noch erleben, wählt den 1. Juli. Ein Freitag. Ihre Freunde sind bei ihr. Am Abend trinken sie ein letztes Glas Wein. Am Morgen hilft ihre Freundin Anita ihr im Bad, kämmt ihr die blonden Haare. „Du siehst aus wie ein Engel“, sagt sie. Angie hätte gerne länger gelebt, das wissen ihre Freunde. Aber nicht mit dieser Krankheit und den Schmerzen. „Hätte es nur einen Funken Hoffnung gegeben, dass es jemals wieder besser wird, hätte sie es nicht gemacht“, sagt Anita.

An diesem Morgen spüren alle ihre Freunde, wie sehr Angie ihren Frieden mit ihrer Entscheidung gemacht hat. Alle sitzen an ihrem Bett, auch ihr erwachsener Sohn. Und natürlich ihr Bernhard. Um 9 Uhr kommt der Jurist, der Arzt bereitet die Infusion vor. Es ist 10 Uhr, als Angie nach dem kleinen Rad an der Infusion greift und daran dreht. Ein paar Sekunden später sagt sie: „Mir wird schwindlig.“ Dann schläft sie ein.

Durch die Infusion fließt hochdosiertes Thiopental– ein Narkosemittel. Es verlangsamt die Atmung, das Herz der 58-Jährigen schlägt immer langsamer. Und hört schließlich ganz auf. Es ist ein sanfter Tod.

„Es ist friedlich“, sagt Thomas Walczak. Auch sein Partner Ilhan Alakara hat sich vor anderthalb Jahren für den assistierten Suizid entschieden. Der 57-Jährige hatte Magenkrebs. „Zuletzt konnte er nicht mal mehr Wasser schlucken.“ Die Chemotherapien wirkten nicht, der Körper war bereits voller Metastasen. Für Ilhan stand schnell fest, dass er sein Leben selbstbestimmt beenden möchte, erzählt Walczak. „Er hat immer gesagt: Mein Leben war ein Wunschkonzert auf einem Ponyhof.“ So wie er lebte, wollte er auch sterben. Sein Freund ist diesen letzten Weg mit ihm gegangen. „Wir hatten noch zwei intensive Wochen, in denen wir viel geredet haben“, sagt Thomas Walczak. Heute ist er dankbar, dass er das Todesdatum kannte. „Wir hatten die Zeit, uns alles zu sagen, was wir empfinden. Ich konnte ihm danken – und ich konnte ihm etwas zurückgeben.“ Es war der größte Liebesbeweis seines Lebens, Ilhan beim Sterben zu helfen.

„Ich hatte große Angst vor dem Tag“, sagt er. Die besten Freunde waren bei Ilhan. Er wollte zu Hause in seinem Bett in München sterben. Als der Arzt die Infusion angelegt hatte, drehte er sofort das Rädchen auf. „Er hatte Angst, dass er sonst nicht den Mut dafür findet.“ Thomas Walczak legte sich in seine Arme. Die beiden schauten sich in die Augen, bis Ilhans Herz aufhörte zu schlagen. „Er hat so viel Ruhe und Frieden ausgestrahlt. Ich habe gesehen, dass er glücklich war über dieses Ende.“ Das half ihm durch die Trauer.

Die Antragsteller haben bis zum letzten Moment die Chance, sich umzuentscheiden, betont die DGHS-Sprecherin. Das kommt aber so gut wie nie vor. „Die meisten sind dankbar, vor ihrem Tod alles regeln zu können. Ihr Ende selbst zu gestalten.“ Nachdem der Arzt den Tod festgestellt hat, wird die Polizei informiert. Formal muss die Todesursache ermittelt werden.

Wenn Thomas Walczak heute an diesen Tag zurückdenkt, sagt er: „Es war ein sehr schlimmer, schöner und trauriger Moment.“ Er ist gläubig und hat sich oft die Frage gestellt, ob dieser Weg richtig war. Inzwischen hat er eine Antwort gefunden. „Ich glaube an einen gütigen Gott. Und ein gütiger Gott hätte nicht gewollt, dass Ilhan weiter so leiden muss.“

Auch Bernhard Schröter hat Zeit gebraucht nach Angies Tod. Er ist mit dem Fahrrad nach Santiago de Compostela gefahren. Drei Monate war er unterwegs. Um zu trauern. Um nachzudenken. Auch ihn brachte sein Glaube in einen Konflikt. „Angie wäre auch in die Schweiz gefahren, wenn der assistierte Suizid hier nicht erlaubt gewesen wäre.“ Aber sie wollte zu Hause sterben. Bei ihrer Familie und ihren Freunden. Heute hat Bernhard Schröter keine Zweifel mehr, dass er das Richtige getan hat. „Ich bin dankbar, dass sich Angie bis zuletzt auf mich verlassen konnte“, sagt er. Und dass er sie kurz vor ihrem Tod noch einmal lachen hören durfte.