INTERVIEW

„Die Gefahr in den Kinderzimmern ist groß“

von Redaktion

Eine Psychologin erklärt, warum Tiktok & Co. vor allem unter 13-Jährige nachhaltig schädigen

Ein fast schon normales Bild: Viele Kinder sind zu lange online. Das hat Folgen für die Entwicklung. © Harald Oppitz/KNA

München – Handyfreie Schulen oder ein Verbot von Tiktok & Co. für bestimmte Altersgruppen: Die Politik debattiert seit Längerem darüber, das EU-Parlament hat jetzt tatsächlich Verbote gefordert (siehe Artikel unten). Konkrete Gesetze fehlen freilich noch. Wie groß sind die Schäden, die Kinder durch übermäßigen Medienkonsum erleiden? Dr. Julia Brailovskaia von der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum, selbst Mutter von zwei Kindern, forscht zu den Effekten, die langfristige Social-Media- und Smartphone-Nutzung haben. Ein Gespräch über Bildschirmzeiten, erwachsene Vorbilder und Zwölfjährige mit Wodkaflasche unterm Arm.

Frau Brailovskaia, Sie und andere Fachleute sprechen sich für Social Media erst ab 13 Jahren aus. Eine realistische Empfehlung?

Ich hoffe, dass sie realistisch ist. Uns ist klar, dass sie nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Die Umsetzung hängt von vielen Faktoren ab. Aber ich bin sicher: Ist es einmal umgesetzt, wird es auch gut laufen. Wichtig ist, dass die Anbieter von Sozialen Medien mitspielen: Sie sollten genau kontrollieren, dass wirklich erst Personen ab 13 Jahren zugreifen können und es für 13- bis 16-Jährige Einschränkungen gibt: keine Push-Nachrichten, keine unangebrachte Werbung, keine Partnersuche, die Möglichkeit einer erwachsenen Begleitperson.

Was spricht für das Alter von 13 Jahren?

Viele Plattformen schreiben sich selbst auf die Fahnen, dass sie die Plattformen erst ab 13 erlauben – was nicht der Fall ist; wir wissen von Sechsjährigen, die Tiktok und Co. nutzen. Zudem liegt bei 13 Jahren ungefähr der Übergang vom Kindes- zum Jugendalter: Da ist es okay, wenn man Soziale Medien nutzt – aber kontrolliert.

Wie könnte das aussehen?

Wir schlagen zunächst gemeinsame Accounts vor, damit Eltern genau wissen, was ihre Kinder in Sozialen Medien machen, mit wem sie interagieren und wie lange sie die Angebote nutzen. Niemand möchte, dass das eigene Kind draußen von jemandem angesprochen wird, der keine guten Absichten verfolgt. Dasselbe gilt in der Online-Welt. Die Gefahr in den Kinderzimmern dürfen wir nicht unterschätzen.

Nicht alle Eltern nutzen vorhandene Schutzmöglichkeiten, stellen nicht technisch ein, dass nur bestätigte Kontakte das Kind anschreiben dürfen.

Wir brauchen einen neuen Bildungskanon: mehr Aufklärung über Chancen und Risiken von Social-Media, auch über das Suchtpotenzial. Dazu gehören niedrigschwellige Beratungsangebote für Eltern. Eltern brauchen klare Handlungsempfehlungen: Es reicht nicht, zu wissen, dass es Gefahren gibt. Man muss auch wissen, was man dagegen tun kann.

Nämlich?

Ganz klar: Die Nutzungszeit der Kinder einschränken. Dazu gehört aber auch, Alternativen zu bieten. Die Nutzung zu verbieten, aber selbst mit dem Smartphone neben dem gelangweilten Kind zu sitzen, ist kontraproduktiv. Regeln sollten für alle im Haushalt gelten. Wichtig sind auch positive Emotionen im Offline-Leben: Spieleabende, sportliche Aktivitäten oder Achtsamkeitsübungen. Hauptsache, man unternimmt als Familie gemeinsam etwas – dann wird das Bedürfnis, online nach positiven Emotionen zu suchen, gar nicht erst übermächtig.

Wie können die Schulen unterstützen?

Ich bin für ein eigenes Schulfach Medienbildung. Zudem sollte das Thema in allen Fächern eine Rolle spielen. Beispielsweise wurde das Thema Sucht und Drogen seinerzeit bei uns im Religions- oder Deutschunterricht angesprochen. So sollte heute der Umgang mit Sozialen Medien überall einfließen, denn sie werden nicht wieder verschwinden. Vielen Menschen ist aber nicht klar, welche Probleme mit ihnen einhergehen – bis hin zur Suizidalität.

Das Hauptproblem?

Die Suchtgefahr, in die man rutscht, ohne es zu merken. Wenn an der Bushaltestelle ein zwölfjähriges Kind mit einer Wodkaflasche sitzen würde, würden Erwachsene alarmiert reagieren. Wenn das Kind mit dem Smartphone dasitzt, setzen wir uns daneben, es fällt uns nicht einmal auf. Dabei laufen im Kopf des Kindes sehr ähnliche Mechanismen ab, die die körperliche und psychische Gesundheit beeinträchtigen. Der Unterschied ist, dass Alkohol sofort Wirkung zeigt, Soziale Medien dagegen langfristig. Aber sie fördern Depressivität, Angst- und Zwangsstörungen.

Stichwort Suizidalität: Bei geschickten Fragen geben Sprachmodelle wie ChatGPT eine Anleitung zum Suizid. Wie beeinflussen sie die Dynamik?

Das ist eine enorme Verschärfung. Künstliche Intelligenz hat keine Empathie. Sie ist darauf programmiert, das auszugeben, was die Person vor dem Gerät möchte – wenn das eine Suizid-Anleitung ist, dann gibt sie eben die aus. Und Soziale Medien sind darauf ausgelegt, die Nutzungszeit möglichst in die Länge zu treiben. Ihr Interesse ist nicht, zu signalisieren: Du bist schon zu lange dabei, mach mal Pause.

Allerdings suchen Menschen online auch Aufklärung etwa über Krankheiten, und gerade für Minderheiten ist das Netz oft ein sicherer Raum.

Kurzfristig mögen diese Effekte eintreten. Aber in meiner Kindheit, ich bin 38, gab es kein Social Media, und trotzdem habe ich mich nie ausgeschlossen gefühlt. Mit meinen Freunden habe ich telefoniert, und wir haben uns getroffen. Niemand wollte wissen, was fünf Milliarden Menschen zu einem bestimmten Thema denken. Wenn mich etwas interessiert hat, habe ich nachgelesen oder jemanden gefragt, der sich auskannte. Und damals waren die Werte zur psychischen Gesundheit bei jungen Menschen deutlich besser als heute. Daher finde ich, dass das Argument von drohender Isolation nicht trägt.

Gibt es Erkenntnisse dazu, wie die Effekte von Smartphone und Co. ein ganzes Menschenleben beeinflussen könnten?

Die ersten Studien sind keine Langzeitstudien. Zehn, 20 Jahre – so lange gibt es noch keine Sozialen Medien. Doch wir wissen, dass intensive Smartphone- und Social-Media-Nutzung die Gehirnstrukturen verändert. Dahingehend, dass kognitive Leistungen beeinträchtigt werden. Darunter leiden Aufmerksamkeit, Lese- und Schreibfähigkeit, also zentrale Bereiche, die in der Kindheit entwickelt werden müssen.

Ab 13 Jahren spielt das Selbstbild, das Vergleichen mit anderen eine große Rolle. Wenn junge Leute in diesem Alter auf die Plattformen kommen: Worauf sollte man achten?

Man muss sie behutsam vorbereiten, nicht einfach hineinwerfen. Wichtig ist, sich Mechanismen gemeinsam anzusehen und sie zu erklären: Die Bilder sind gefiltert, Inhalte sind gestellt, bei Influencern gestalten Profis jedes Detail, und dafür fließt viel Geld. Auf diese Weise kann man das Selbstwertgefühl stärken, das unter der Social-Media-Nutzung massiv leidet. Elf- bis 13-jährige Mädchen haben laut US-Studien ein erhöhtes Suizidrisiko, weil sie sich mit vermeintlich perfekten Menschen vergleichen – und automatisch „schlechter“ abschneiden. In diesem Zusammenhang entwickeln sich Essstörungen und immer frühere Wünsche nach Schönheitsoperationen. Um zu untersuchen, welches Wissen jungen Menschen wirklich weiterhilft, bräuchte es mehr Forschung. Allerdings werden viele Anträge abgelehnt, weil die Brisanz des Themas offenbar noch nicht ausreichend erkannt wurde. Die Folgen werden wir in ein paar Jahren sehen.

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