Keine Zeit für die Flucht: Natalia und Tochter Mariana. © mw
Michael Binner vom Verein „Brücke nach Kyiv“. © mw
Stofftiere zum Abschied: In diesem Wohnblock in Kiew starben mehrere Kinder durch russische Raketen. © Max Wochinger
Der Krieg als Alltag: Zwei Jugendliche betrachten in Kiew eine von russischen Angriffen zerstörte Straße. © Max Wochinger
Kiew – Wenn der Alarm aufheult, bleiben vier Minuten Zeit. Nur vier Minuten, um in die Luftschutzbunker zu fliehen. Dann schlagen die Raketen und Drohnen ein. Natalia und ihre Tochter Mariana, die eine Behinderung hat, brauchen aber 20 Minuten bis zum nächsten Schutzraum. Die 18-Jährige leidet an einer Störung des zentralen Nervensystems und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Jeder Angriff kostet Kraft, die Mariana nicht hat.
Immer öfter fliehen die beiden nicht mehr in den Bunker, erzählt die alleinerziehende Mutter – obwohl es schon Explosionen in der Nähe ihrer Sozialwohnung in einem Außenbezirk von Kiew gegeben habe. „Es ist einfach zu anstrengend. Wir warten den Angriff lieber in unserer Wohnung ab“, sagt sie. „Wenn die Russen angreifen, gibt es oft Stromausfälle. Dann funktioniert der Aufzug nicht und ich kann mit Mariana so oder so nicht in den Bunker.“
Die beiden leben im vierten Stock. Statt in den Schutzraum schiebt sie Mariana in den Flur. Dort verharren sie bis zur Entwarnung. Sicher sind sie hier nicht. „Aber was sollen wir machen?”, fragt Natalia. „Wir haben uns an den Krieg gewöhnt.”
Ähnlich geht es vielen in der ukrainischen Hauptstadt. Mittlerweile finden die Kämpfe vor allem im Osten des Landes statt, doch auch für die Kiewer gehören Drohnen- und Raketeneinschläge zum Alltag. Tagsüber führen sie ein vermeintlich normales Leben: Auf dem Weg zur Arbeit stecken sie im Stau fest, man geht in die vielen Cafés und Restaurants, die Friseursalons sind gut besucht.
Doch der Krieg ist immer da. Auf dem Maidan, einem zentralen Platz, wird der zigtausend Kriegsopfer gedacht. Viele Monumente und Gebäude sind mit Sandsäcken oder Holzverschlägen gesichert. Und dann, meist nach Einbruch der Dunkelheit, beginnen die Luftangriffe. Inzwischen bleiben immer mehr Kiewer im Bett oder gehen nur in den Flur. Alarm, Entwarnung, Alarm, Entwarnung – in manchen Nächten geht das fünfmal so. Die Menschen sind müde geworden. Am nächsten Morgen wird das ganze Leid sichtbar. Unter den Ruinen liegen manchmal komplette Familien begraben.
Besonders hart trifft es Menschen mit einer Behinderung. Natalia erzählt, dass ihre Tochter Mariana den nächtlichen Terror nur schwer ertrage. „Ihr Zustand hat sich seit dem Beginn des Kriegs stark verschlechtert. Sie hat große Angst vor dem Luftalarm und den Explosionen.” Sie reagiere aggressiv und beruhige sich nur langsam nach einem Luftalarm.
Neben ihr steht Michael Binner und hört mit weit geöffneten Augen zu. Er ist Vorstand des Münchner Vereins „Brücke nach Kyiv“. Kyiv ist die englische Schreibweise von Kiew. Der 38-Jährige ist heute hier, um zu verstehen, was der Krieg für Menschen wie Natalia und Mariana bedeutet. Und er will sehen, was seine Arbeit in Kiew bewirkt. Denn der Verein sorgt für Lichtblicke für behinderte Menschen wie Mariana.
Zweimal wöchentlich wird die 18-Jährige in der Tageseinrichtung „Das besondere Kind” betreut. 40 Mitarbeiter kümmern sich um mehr als 30 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Hier bekommen sie psychosoziale Unterstützung, hier können sie spielen, lernen, essen. Auch einen ambulanten Pflegedienst gibt es: Pflegebedürftige werden zu Hause versorgt und psychologisch betreut. Solche Pflegeeinrichtungen sind selten in der Ukraine.
Betrieben wird das Zentrum vom ukrainischen Samariterbund, einem Ableger des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB). Der Bedarf an Hilfe für Menschen mit Behinderungen sei stark gestiegen, sagt Janina Levkovska, Geschäftsführerin des Samariterbunds. „Wegen des groß angelegten Kriegs mussten viele Familien mit Kindern mit Behinderungen aus den Kampfgebieten fliehen. Viele sind nach Kiew gekommen und leben jetzt dauerhaft hier.”
Binner und sein Verein unterstützen den Samariterbund. Seit vielen Jahren hilft er beim Ausbau der Sozialstation und bei Neuanschaffungen. Mit Beginn der russischen Invasion ist mehr Hilfe nötig geworden: „Die Situation für viele Menschen in Kiew hat sich stark verschlechtert”, sagt er. „Daher bemühen wir uns, Lebensmittel, Bekleidung oder Winterausrüstung bereitzustellen.”
Die Hilfe ist schwieriger geworden, denn laut Binner spenden in Deutschland immer weniger Menschen für die Ukraine. „In den ersten Kriegstagen war die Spendenbereitschaft sehr groß, auch im Vergleich zu Katastrophen wie Erdbeben.” Allein in den ersten sechs Monaten habe man 80 000 Euro gesammelt. Doch schon im Jahr darauf gingen die Spenden zurück. „2024 war es dann schon sehr wenig und in diesem Jahr ist fast gar nichts mehr gekommen.” Finanziell unterstützt wird die „Brücke nach Kyiv” vom Münchner Spendenverein Sternstunden (siehe Interview).
Wie wichtig die Hilfe aus München ist, zeigt die neue Rampe der Sozialstation. Bisher mussten Kinder und Pfleger über die Straße, um den Schutzbunker zu erreichen. Das war anstrengend und gefährlich, berichtet Levkovska. „An manchen Tagen mussten wir fünfmal zum Bunker laufen. Für die Kinder war das sehr verstörend.” Über die Rampe gelangen Kinder und Personal jetzt direkt von der Einrichtung in den Schutzraum. „Ohne die Unterstützung aus München wäre das nicht möglich gewesen”, sagt Levkovska. „Wir brauchen jetzt nur zwei Minuten, um alle in den Keller zu bringen.”