Grassau – Grassaus Polizei-Hauptkommissar Marcus Roth durchlebt derzeit die wohl turbulentesten Tage der Geschichte in seiner Gemeinde. Erst erschütterte ein bundesweiter Pflegebetrugsskandal mit Opfern im örtlichen betreuten Wohnen den Ort. Dann bestätigte sich ein Wolfsriss nahe Grassau. In den letzten zehn Tagen beschäftigte zudem eine Anti-AfD-Demo mit anschließenden Vorwürfen gegen die Polizei den örtlichen Chef-Beamten.
Polizist wird nicht als Beschuldigter geführt
Mit dem seit Montagabend zweifellos größtem Thema – dem Todesschuss eines Polizisten im Grassauer Ortsteil Mietenkam nach einer vermutlichen Messer-Attacke eines 35-jährigen Mannes – hat Marcus Roth nur noch indirekt zu tun. „Um den Schusswaffengebrauch juristisch einzuordnen, hat die Staatsanwaltschaft Traunstein die Sachleitung. Die polizeilichen Ermittlungen werden wegen der Neutralität vom Landeskriminalamt München geführt“, sagt Stefan Sonntag vom Polizeipräsidium Oberbayern Süd dem OVB.
Sowohl die Kollegen vom Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) als auch der für den spektakulären Fall zuständige Oberstaatsanwalt aus Traunstein waren bereits in den Abendstunden und der Nacht vom vergangenen Montag auf Dienstag am Tatort, einem Haus im sonst so beschaulichen Ortsteil Mietenkam. Dabei wurde sowohl der Polizist, der den Todesschuss abgegeben hat, als auch seine Kollegen und die Mutter des getöteten Mannes zum Tathergang vernommen.
Nach Sichtweise der Polizei hatte der durch andere Gewaltdelikte bekannte Mann seine Mutter als Geisel genommen. Als die in größerer Zahl angerückten Beamten klingelten, soll der Mann die Haustür geöffnet und mit dem Messer sofort auf die Einsatzkräfte losgegangen sein. Danach fiel der Todesschuss.
„Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen wurde nur durch den Polizeibeamten ein Schuss abgegeben, der durch den 35-jährigen Mann unmittelbar zuvor mit einem Messer angegriffen wurde. Dieser Schuss war tödlich“, erklärte Oberstaatsanwalt Rainer Vietze auf Anfrage der OVB-Heimatzeitungen. „Da nach den aktuellen Erkenntnissen kein Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten durch den Polizeibeamten besteht, wurde der Beamte als Zeuge vernommen.“
Das bedeutet, dass der Polizist nicht als Beschuldigter geführt wird. Ob diese Ersteinschätzung bestehen bleibt, wird sich im Laufe der weiteren Ermittlungen des BLKA herausstellen. Bei der Staatsanwaltschaft Traunstein laufen zum Todesschuss von Grassau insgesamt drei unabhängige Verfahren.
„Das Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Schusswaffengebrauchs wird von der Staatsanwaltschaft Traunstein im Allgemeinen Register geführt. Außerdem wird bei unserer Behörde ein sogenanntes Todesermittlungsverfahren geführt, wie es bei jedem Todesfall mit nicht natürlicher Todesursache geschieht“, so Vietze. „Zudem wurde gegen den verstorbenen 35-jährigen Mann ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil des Polizeibeamten, der den Schuss abgegeben hat, eingeleitet.“
Darum wird gegen einen Toten ermittelt
Es wird also auch gegen den getöteten 35-jährigen Mann aus dem Grassauer Ortsteil Mietenkam ermittelt. Auch wenn dieses Ermittlungsverfahren aller Voraussicht nach wegen § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung eingestellt werden dürfte, „da aufgrund des eingetretenen Todes ein dauerhaftes Verfahrenshindernis besteht.“ Ermittlungen werden jedoch in diesem Verfahren auch deshalb geführt, da sie Auswirkungen auf das wichtigste Verfahren zur Rechtmäßigkeit des polizeilichen Schusswaffengebrauchs haben könnten.
Der Polizist, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, kann derweil aus Sicht der Staatsanwaltschaft seinen Job laut Vietze ganz normal weiterführen: „Da er nicht als Beschuldigter geführt wird, liegt das ganz in der Entscheidung seines Dienstherren.“ Ob das im konkreten Fall so ist, wollte Polizeisprecher Sonntag aus Rücksicht auf die Privatsphäre des Betroffenen nicht verraten:
„Wichtig für uns ist, dass alle eingesetzten Kollegen aus Fürsorgegründen betreut werden. Jeder verarbeitet das anders – bei manchen dauert es Tage, bei anderen Wochen oder länger.“
Für die Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses waren und sind ein Kriseninterventionsteam und Betreuer der Polizei im Einsatz. Falls der Schütze nicht dienstfähig sein sollte, könne er sich laut Sonntag „natürlich krankmelden.“ Eins steht in jedem Fall fest: Auch die nächsten Tage werden für Marcus Roth und seine Polizei-Kollegen turbulent bleiben. Lars Becker