Prien – Wie gesund sind die Priener Kinder? Eine einfache Frage, eine nicht so einfache, aber deutliche Antwort vom Priener Kinderarzt Dr. Reinhard Hopfner: „Im Vergleich zu anderen Kindern in Teilen Deutschlands relativ gesund, verglichen mit den Priener Kindern von vor zehn Jahren sind sie relativ ungesund“, antwortet Hopfner beim Termin in seinem Behandlungszimmer. Das liege an vielen neuen Krankheiten, so der Kinderarzt. Insgesamt kommen im Verlauf des Gesprächs viele Missstände zutage. „Das ist schade, es ist eine schöne Arbeit und wir arbeiten gerne“, betont der Kinder- und Jugendmediziner.
Grundlegend sieht er den starren Rahmen des Gesundheitssystems als große Belastung. Das hat viel mit den gesetzlichen Regelungen der Versorgung gesetzlich Versicherter zu tun, welche die Kassenärztliche Vereinigung in Bayern, die KVB, vorgibt. Sie legt fest, wie viele Kassensitze es in den Regionen gibt.
Medizinische
Überversorgung
Laut der KVB gibt es im Landkreis Rosenheim eine medizinische Überversorgung. „Die KV berücksichtigt nur die Bevölkerungszahl und keine anderen Faktoren, die zunehmend eine Rolle spielen“, so Hopfner und zählt auf: Demografischer Wandel, über ein Drittel der Kinderärzte im Kreis Rosenheim sind über 60 Jahre alt und werden in absehbarer Zeit in den Ruhestand gehen. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten in Teilzeit. Es gibt mehr Vorsorgen, mehr Impfungen und eine starke Zunahme der schon erwähnten neuen Krankheiten.
Dazu kommt ein erhöhter organisatorischer Aufwand. Beispielsweise durch IT, die Telematik-Infrastruktur, die europäische Datenschutzverordnung oder Sprachbarrieren zwischen den Medizinern und Kindern sowie deren Eltern. Auch sei es, wie in vielen anderen Branchen auch, immer schwieriger, Fachkräfte wie medizinische Fachangestellte (MFA), aber auch Putzkräfte zu finden. Drei MFA seien in den vergangenen Jahren ans Traunsteiner Klinikum gewechselt, auch weil die Konditionen, auch aufgrund tariflicher Bezahlung an Kliniken, vermeintlich besser sind. Hopfner und seinen Praxis-Kolleginnen bleibt die Ausbildung eigener MFA, was wiederum ein größerer Aufwand ist.
Und dennoch sagt er: „Wenn Kinder hier eine Vorsorgeuntersuchung benötigen, dann bekommen sie die hier in der Praxis.“ Auch wenn die dann auch mal um halb acht am Abend ist. Das Einzugsgebiet der Praxis im Priener Ärztehaus ist groß: von Rimsting im Norden bis Sachrang im Süden und teilweise Übersee im Osten. Die nächsten niedergelassenen kinder- und jugendmedizinischen Praxen sind in Bad Endorf, Rosenheim und Grassau. Auch aufgrund dieser vielen Herausforderungen wünsche sich Hopfner mehr Freiraum durch die KV, „dass wir zum Beispiel auch Ärzte anstellen können“. Dies gehe durch die Vorgaben der KV nur sehr eingeschränkt.
„Wir können nicht sagen: ‚Liebe KV, wir brauchen noch einen Kassensitz, ich schaffe das so nicht mehr.‘ Die KV sagt dann, ihr seid überversorgt.
„Wir sind alle
am Anschlag“
Es ist ein sehr rigides, sehr bürokratisches und starres System. Die KV sagt eigentlich, ich arbeite zu viel“, erzählt der Pädiater.
Wenn er strikt nach den Vorgaben der KV arbeiten würde, gebe es weniger Vorsorgeuntersuchungen, weniger Impfungen, „keine Präventionsmedizin, keine Akutmedizin. Kranke Kinder wären dann häufiger nicht hier, sondern in den Kliniken. Und die Krankenhäuser haben das gleiche Problem wie wir. Wir sind alle am Anschlag.“
Die Praxis wird von Dr. Hopfner zusammen mit Dr. Monika Schwarz und Dr. Birgit Jork-Käferlein betrieben. Dr. Cathrin Jell ist angestellt. Auf einem Kassensitz können auch mehrere Ärzte arbeiten, entscheidend ist die Stundenanzahl. In Prien gibt es eine weitere kinderärztliche Praxis, die ist aber nur für Privatversicherte. Termine in der Praxis im Ärztehaus werden immer nach Dringlichkeit und Bedarf priorisiert. Gerade bei den Vorsorgeuntersuchungen gibt es einen festen Zeitplan, der eingehalten werden muss. Aber je älter das Kind ist, desto größer wird der Zeitraum, in dem die Untersuchung stattfinden kann.
Dabei wird in der Regel der Termin für die nächste Vorsorgeuntersuchung bereits in der Praxis vergeben. Über das Portal Doctolib werden nur vereinzelt Termine gebucht, das meiste läuft nach wie vor telefonisch. Rund die Hälfte der Termine in der Praxis dienen der Prävention, vor allem Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. „Die anderen 50 Prozent sind die Behandlungen von akuten und chronischen Erkrankungen sowie Gespräche, viele Gespräche“, ordnet Hopfner ein.
Zunahme bei
neuen Krankheiten
In diesen Gesprächen geht es dann auch viel um die eingangs erwähnten neuen Krankheiten. Zu diesen zählen für Hopfner psychische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen, Essstörungen und Adipositas. Diese Krankheitsbilder haben in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen.
Hopfner fällt dabei vor allem auf, dass häufiger Kinder von formal niedrig gebildeteren Eltern betroffen sind: „Kinder mit schweren Entwicklungsstörungen werden häufig relativ früh auffällig. Das beginnt in der Regel in einem Alter von zwei bis drei Jahren, dass die Kinder sprachlich verzögert und motorisch häufig rastlos sind.“ Das Verhalten der Eltern wirkt dabei vor allem beim Thema Medienkonsum auf die Kinder: „Die Kinder wachsen quasi mit dem Handy auf. Und es ist mittlerweile wissenschaftlicher Konsens, dass proportional mit der Zeitdauer des Medienkonsums im Säuglings- und Kleinkindalter, also Fernsehen, Handy, Laptop und so weiter, proportional auch die Verhaltensauffälligkeiten steigen.“
Auch der Zusammenhang von Autismus-Störungen oder ADHS mit einem hohen Medienkonsumverhalten in der frühen Kindheit stehe in klarem Zusammenhang. Hopfner: „Vor allem die ersten drei Jahre sind da entscheidend.“ Oft beobachte Hopfner in der Praxis, wie Mütter oder Väter mit den Kindern warten, „da haben Eltern oft ihr Handy in der Hand“. Es gebe aber auch Positivbeispiele:
Freude über
Bücherlektüre
„Wenn Eltern mit ihren Kindern in der Zeit ein Buch anschauen, dann freue ich mich darüber und sage ihnen auch, dass das gut ist, was sie machen. Gleichzeitig weise ich die Eltern mit Handy darauf hin, dass es eigentlich nicht in Ordnung ist.“ Beim Thema Ernährung spiele das Stillen eine große Rolle: „Gestillte Kinder haben später seltener Übergewicht.“ Außerdem sei vielen Menschen immer noch nicht klar, welch schlechten Einfluss Zucker auf das kindliche Gewicht hat. Übergewicht in der Kindheit hat oft langfristige Folgen: „Kinder, die als Kleinkind übergewichtig sind, bleiben auch als Erwachsene häufig übergewichtig.“ In diesem Zusammenhang muss auch auf günstige, verarbeitete Lebensmittel hingewiesen werden und auch Fastfood ist für Hopfner ein Thema: „Wir sehen ganz oft hier in der Praxis, dass die Eltern nach einer Impfung sagen: ‚Jetzt warst du so brav, jetzt gehen wir noch zum Mäcki.‘ Ich verweise dann darauf, dass das ernährungsphysiologisch eigentlich eine Katastrophe ist und das Kind damit eher bestraft wird.“
Themen
ansprechen
Aber wie den Problemen entgegenwirken? Gerade in den Gesprächen mit den Eltern versucht Hopfner, die Themen anzusprechen. „Das Stichwort ist Präventionsmedizin. Aber das Problem daran ist oft, dass das Ergebnis der präventiven Maßnahme für Laien später nicht gesehen wird, wie zum Beispiel die Verhinderung einer schweren Erkrankung durch eine Impfung.“ Ehrlichkeit im Umgang mit den Eltern sei wichtig: „Es gibt schon Eltern, bei denen ich relativ klar ausdrücke, dass es für das Kind nicht gut ist, was sie machen.“ Letztendlich sei es aber so, dass „wir versuchen, den Eltern zu vermitteln, dass ihr Handeln einen großen Einfluss auf das spätere Leben der Kinder hat.“