Rosenheim

Das Leben selbst bestimmen

von Redaktion

Rosenheim – Am gestrigen Sonntag war der internationale Tag der Menschen mit Behinderung – Gelegenheit für ein Gespräch mit der Rosenheimer Behindertenbeauftragen Christine Mayer über Barrieren auf der Straße, im Kopf – und was man dagegen tun kann. Seit zehn Jahren ist Christine Mayer die Behindertenbeauftragte der Stadt Rosenheim. Auch wenn sie selbst keine Beratungen durchführen darf, ist Mayer für viele, die mit dem Thema konfrontiert werden, die erste Ansprechpartnerin. Jeden Dienstag bietet sie von 14 bis 17 Uhr im Sozialrathaus in der Reichenbachstraße eine Sprechstunde an. Dort tauchen Menschen mit den unterschiedlichsten Anliegen und Problemen auf: Eltern, die mit der Behinderung ihres neugeborenen Kindes zurechtkommen müssen und auf der Suche nach Information und Hilfe sind, Menschen, die wegen wegen Unfall oder Erkrankung aus dem Erwerbsleben herausfallen oder Rollstuhlfahrer, die eine behindertengerechte Wohnung suchen. Nicht immer liegen die Lösungen für die Probleme gleich auf der Hand: „Besonders im Sozial- und Arbeitsrecht gibt es verzwickte Fälle“, erzählt Mayer. „Kürzlich war ein Mann bei mir, der in einer Behinderteneinrichtung beschäftigt ist und von dort an ein Unternehmen ausgeliehen wurde. Dort arbeitet er eigentlich ganz normal. Weil der Mann aber ja eigentlich in der Behinderteneinrichtung ist, gilt er nicht als sozialversicherungspflichtig beschäftigt und hat auch keinen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosen- oder Rentenversicherung erworben – obwohl er jeden Tag in dem Betrieb arbeitet.“ Mayer selbst berät nicht – das darf sie auch gar nicht – aber sie weiß, welche Stelle, welche Einrichtung zuständig ist oder welcher Verein weiterhelfen kann. Dabei hat sich die Sprechstunde im Sozialrathaus durch ihre kurzen Wege bewährt: Denn hier sind die zuständigen Mitarbeiter in der Stadtverwaltung schnell und unkompliziert erreichbar. Die Sprechstunde ist aber nur ein Teil der Arbeit von Mayer, die ihre Aufgabe im Ehrenamt wahrnimmt. Sie vernetzt Behörden und Vereine, nimmt an Abstimmungsrunden teil, informiert sich bei Treffen und Gremien auf überörtlicher Ebene und gibt Stellungnahmen zu neuen Gesetzesvorschläge oder Bauprojekten ab. „Es hat sich etwas geändert“ Seit zehn Jahren übt Christine Mayer ihr Amt aus. Hat sich in dieser Zeit etwas an ihrer Arbeit geändert? „Definitiv“, sagt Mayer: „Vor zehn Jahren hatte man noch die Vorstellung, Menschen mit Behinderung müssten möglichst umfassend umsorgt werden. Heute steht dagegen die Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben im Vordergrund.“ Ein Schlüssel dazu ist, dass Menschen mit Behinderung ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können – sie brauchen Arbeitsplätze. Ein Problem, das Sozialamtsleiter Christian Meixner besonders am Herzen liegt. Die Stadt Rosenheim ist selbst Arbeitgeber und überschreitet die gesetzlich vorgegebene Quote von fünf Prozent bei Weitem: „Wir haben immer gute Erfahrungen gemacht. Wichtig ist einfach, dass die Arbeitsplätze entsprechend gestaltet sind“, sagt Meixner. Dazu müssen in seinen Augen die Betriebe gestärkt werden. Unterstützungsmöglichkeiten gibt es viele: Zuschüsse für technische Ausstattungen, Beratungen, wie Menschen mit Handicap eingesetzt werden können, Schulungen für Kollegen und Vorgesetzte im Umgang mit behinderten Menschen und sogar der Einsatz eines Coaches. Doch der Arbeitsplatz ist nur die eine Sache. Sechs Themenbereiche nennt der Teilhabeplan, den die Stadt erarbeitet und beschlossen hat, um das Thema Inklusion voranzubringen: frühkindliche Bildung, Schule, Arbeit, Wohnen, Freizeit, Mobilität und Verkehr. Der Teilhabeplan gibt Ziele vor und formuliert konkrete Maßnahmen. Und es tut sich einiges: Ein Arbeitskreis Schulen beschäftigt sich mit dem Thema Inklusion: Schulbegleiter ermöglichen es Kindern mit Handicap, Regelschulen zu besuchen. An der Volkshochschule gibt es eine Veranstaltungsreihe, bei der Gehörlosendolmetscher übersetzen. Die 101 Wohnungen, die in der Finsterwalderstraße gebaut wurden, sind alle barrierefrei. Und auch bei der Planung für den neuen Bahnhofsvorplatz samt Busbahnhof war Mayer eingebunden, um die Flächen barrierefrei zu gestalten. Am Ludwigsplatz wurde ein Blindenleitsystem installiert. Und die Ampeln werden abends in Rosenheim nicht mehr abgeschaltet, sondern laufen durch, damit Sehbehindert, die auf die Blindenampeln angewiesen sind, auch spät unterwegs sein könne. „Es kommt Bewegung rein, aber es geht mühsam und langsam“, so lautet Mayers Fazit. Eine letzte Frage an sie: Was ist wichtiger: Barrierefreiheit in möglichst vielen Bereichen des Alltags oder ein Bewusstseinswandel im Umgang mit Menschen mit Handicap? Kurzum: Beton oder Kopf? Mayer muss nicht lang überlegen: „Das Wichtigste ist: Das Herz muss mit dabei sein.“ Von Klaus Kuhn

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