Rosenheim – Das Bildungswerk Rosenheim feiert 80. Geburtstag. Ein Gespräch über die Inhalte, Werte und den Sinn dieser Institution mit Dr. Markus Roth, Geschäftsführer des Bildungswerks und Regina Trautwein, verantwortlich für das Marketing.
Zu welchem Zweck und wie ist das Bildungswerk entstanden?
Als im Herbst 1945 Rosenheimer Bürgerinnen und Bürger mit Genehmigung der amerikanischen Militärregierung das Religiöse Vortragswerk gründeten, wollten sie nach den schrecklichen Erfahrungen der Naziherrschaft und dem Kriegsende dem Bedürfnis nach Bildung und Information einen Ort geben. Als Nachfolgeeinrichtung des Religiösen Vortragswerks zeichnet sich das Bildungswerk Rosenheim e.V. bis heute dadurch aus, dass es den Menschen in Stadt und Landkreis Rosenheim ein Ort der Bildung und der Begegnung sein will.
Was waren vor 80 Jahren die vorrangigen Themen?
In erster Linie waren es die Fragen nach Orientierung und Sinn. Man muss sich einmal vorstellen, was die Menschen während des Krieges durchgemacht haben. Da gab es ein großes Bedürfnis zum Verstehen und Bewältigen des nationalsozialistischen Terrors und nach Ermutigung. Die Leute waren hungrig nach Leben. Viele Gläubige fanden in den offenen Diskussionsforen und neuen Gottesdienstformen existenzielle Antworten.
Was ist an Themen aus dieser ursprünglichen Idee geblieben?
Eigentlich alles. Das religiöse Leben spielt immer noch eine große Rolle in unseren Kursen. Da beziehen wir alle Kulturen und Glaubensrichtungen ein. Heute leben Christen, Muslime, Buddhisten und Hindus in unserer Stadt. Und auch Agnostiker, Atheisten. Das Bildungswerk ist für alle offen und bietet eine Plattform für interreligiöse und interkulturelle Begegnungen. Letztlich geht es bei unserem Angebot immer um das Zusammenleben. Auch in einem Kurs wie „Stammtischparolen Training“. Hier geht es darum, was man mit Aussagen macht, die schwierig, rassistisch oder antisemitisch sind.
Manchmal fällt es nicht leicht, im eigenen Umfeld gut darauf zu reagieren. Also Streiten lernen und auch fördern. Damit Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind, im Gespräch bleiben. Das ist heute oft nicht mehr der Fall.
Welche Bildungsinhalte sind den Menschen heutzutage wichtig?
Eigentlich sind wir ein Gemischtwarenladen oder beinahe ein Supermarkt, was das Angebot betrifft. Das Angebot reicht von Umgang mit Chat GPT bis zum West Coast Swing Tanzabend. Mit uns können die Menschen Waldbaden lernen, ein After-Work Lauftraining am Simssee absolvieren oder mit Yoga entspannen. Wir haben ein breites Spektrum an pädagogischen Themen, besonders das EKP, das Eltern-Kind-Programm. Hier finden Eltern, Großeltern und Kinder Platz zum Spielen, offene Treffs zum Austausch, Unterstützung und Eltern-Kind-Gruppen. Aber es gibt auch viele andere Angebote für junge Mütter und Väter, wie zum Beispiel einen Familiennachmittag auf einem Biohof oder den Musikgarten.
Als Eltern ist man erst einmal raus aus dem Berufsleben, vielleicht einsam oder überfordert mit einem Kind allein zuhause, da gibt es jede Menge Möglichkeiten der Begegnung mit anderen jungen Eltern.
Gibt es auch „Flops“?
Leider ja. Mit manchen Themen kommen wir nicht an die Menschen heran. Beispiele dafür sind Veranstaltungen, bei denen es um Umweltschutz geht, da haben wir tolle Partner: den Bund Naturschutz oder den Landesbund für Vogelschutz. Vielleicht sind Umwelt und Natur „altmodisch“ geworden. Doch wir bleiben dran, weil es wichtige Themen sind. Wenn der Vorsitzende des LBV-Bayern, Dr. Norbert Schäffer, seine Zuhörer mitnimmt in die Welt der Vögel, ist es etwas ganz Besonderes. Wer weiß schon, was in seinem Garten herumfliegt, wie wichtig die Vögel für die Natur sind.
Was ist ein typischer „Bildungswerk-Kurs“?
Seit circa drei Jahren rücken die Themen Gesellschaft und Politik immer mehr in den Vordergrund. Und ganz besonders Diskriminierung. Es gibt so viele Arten von Diskriminierung, jeder, der nicht von hier ist, hat es schon erlebt. Man muss nicht einmal eine andere Hautfarbe haben. Da sind wir wieder beim Thema „Zusammenleben“. Nehmen wir als Beispiel den Workshop „Stereotype und Vorurteile erkennen, Diskriminierung vorbeugen“. Da geht es primär um die Vielfalt des Islams und muslimische Lebenswelten, es gibt viele Feindbilder. Wir setzen und in einem solchen Kurs mit den Vorurteilen auseinander und versuchen, unbewusste Denk- und Handlungsweisen zu verstehen. Diese Veranstaltung steht für vieles, das das Bildungswerk vermitteln kann.
Wie hat sich Bildung verändert? Vom analogen zum digitalen. Wie läuft das mit den Online-Kursen? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Natürlich sind die analogen Kurse nach wie vor wichtig. Hier treffen sich die Menschen, tauschen sich über ein Thema aus. Egal ob in den Räumen des Bildungswerks oder an anderen Orten, beim Laufen in der Natur, beim Waldbaden oder auch bei einer mehrtägigen Veranstaltung oder einer Pilger-Reise. Aber auch Online-Kurse erfreuen sich immer größerer Beliebtheit, wie zum Beispiel die Online-Kräuterwerkstatt. Welcher Duft entfaltet sich in Eurer Teetasse? Welches Kraut verräuchern wir in den Raunächten? Wir sprechen über den richtigen Erntezeitpunkt, die Trocknung, die Lagerung und die Verwendung der Kräuter in der Küche, als Heilkräuter oder beim Räuchern. Wie immer gibt es eine Liste mit Kräutern, die gesammelt werden können, um sie gemeinsam am Abend zu verarbeiten. Da kann man gemütlich am Küchentisch sitzen und spart sich den Anfahrtsweg. Es gibt auch Menschen, die auf solche Angebote angewiesen sind.
Wie sehen Sie die Zukunft des Bildungswerks?
Bildung ist ein lebenslanges Thema. Die Sinne schärfen, Werte vermitteln, sich mit dem Glauben auseinandersetzen, neue Menschen kennenlernen. Oder wie Eva-Maria Zehentmair, Vorsitzende des geschäftsführenden Ausschusses es formuliert: „Es ist wichtig, dass man zusammenkommt. Trotz Google, Chat GPT, Instagram und Facebook, wir sind soziale Wesen, nicht nur in den sozialen Medien. Wir haben Verantwortung für die Zukunft und müssen eine Richtung vorgeben.“ Aber wir müssen auch mit der Zeit gehen und sind sozusagen in der digitalen Findungsphase.
Und wir müssen das Ganze irgendwie finanzieren können. Die Kurse, die Mitarbeiter, die Gebäude. Mit unseren zentralen Themen Glaube leben, Pädagogik und Familie, Bewegung, Gesundheit und vor allem Gesellschaft werden wir nicht lockerlassen. Jeder kann mitmachen!
Interview: Martina Poll