Rosenheim – Magdalena „Leni“ Timmer sitzt in ihrem großen Sessel. Hinter ihr auf der Fensterbank stehen einige Figuren aus Ton, menschliche Gesichter. An der Wand gegenüber hängt ein Bild in Rot- und Brauntönen. Das alles hat die 86-Jährige selbst gemacht. Timmer lebt in einem Seniorenwohnheim in Rosenheim. Eine der Fassaden, die der Straße zugewandt sind, ziert seit Neuestem ein großes Street-Art-Kunstwerk. Und auch hier hatte die Hobbykünstlerin ihre Finger im Spiel.
Angeregt
durch Workshop
„Die Gelegenheit wurde mir einfach in den Schoß gelegt“, sagt die 86-Jährige. Sie stammt eigentlich aus den Niederlanden, zog aber vor mehr als 60 Jahren erst nach Österreich und später nach Deutschland. Seit mehr als drei Jahren lebt sie im Seniorenwohnheim Küpferling. Vor einigen Wochen gab es hier im Rahmen eines Street-Art-Festivals einen Workshop, in dem die Senioren zusammen mit einem Künstler die Fassade gestalten sollten.
„Er hat mit der Schablone gearbeitet und wir haben auf Papier mitgemacht“, erzählt Timmer. Und jeder, der wollte, durfte draußen auch beim Großformat des Kunstwerks mithelfen. „Die anderen wollten aber nicht. Dem einen gefiel der Stil nicht, einer hatte keine Zeit, und der Dritte ist eingeschlafen“, sagt Timmer und lacht. Für sie sei aber von Anfang an klar gewesen, dass sie mithelfen will. „Das hat mich einfach so interessiert. Bei so einer Gelegenheit muss man zugreifen.“
Für Timmer ist es nicht das erste Mal, dass sie sich künstlerisch betätigt. „Ich habe immer gemalt“, erzählt die 86-Jährige. Sie töpfert aber auch. „Mit Ton zu arbeiten, ist einfach schön“, sagt Timmer. Die Figuren auf ihrer Fensterbank hat sie „Corona-Männchen“ genannt.
Vielseitige Beschäftigung ist der gebürtigen Niederländerin sehr wichtig. „Man muss einfach ein Hobby haben, wenn man älter wird“, meint sie. Vor allem Hobbys, die keine körperliche Arbeit und Fitness erfordern. „Manchmal geht das im Alter einfach nicht mehr.“
Timmer arbeitete viele Jahre als Altenpflegerin in der ambulanten Pflege. „Das waren die schönsten Jahre“, sagt die 86-Jährige im Nachhinein. In ihrer Heimat in den Niederlanden war sie eigentlich als eine Art Geburtsbegleiterin tätig. „Ich habe werdende Eltern vor und nach der Geburt unterstützt, mich um ihre anderen Kinder gekümmert“, erzählt Timmer. Diese Ausbildung sei in Deutschland allerdings nicht anerkannt worden. Deshalb setzte sich Timmer mit 40 Jahren, nachdem ihre beiden Kinder aus dem Haus waren, noch mal hin und absolvierte die Pflegeschule in Rosenheim. „Ich mag wirklich überhaupt keine Prüfungen und habe mich gefragt, wie ich das schaffen soll“, erinnert sie sich. Doch ihre Klasse habe sie dabei tatkräftig unterstützt.
Einige Zeit lebte Timmer in Traunstein, zog nach Prien, später nach Bernau. Mittlerweile ist sie hier in Rosenheim angekommen. Dabei wollte sie eigentlich nie in ein Seniorenheim, wie sie erzählt. „Ich wollte aber auch nicht von meinen Kindern versorgt werden“, betont Timmer. Stattdessen habe sie sich selbstständig etwas suchen wollen, was ihr gefällt. Durch Zufall sei sie dann auf das Wohnheim in der Küpferlingstraße gestoßen. „Dann bin ich von Bernau hierhergekommen. Und das ist auch gut so.“
Gemalt habe sie in den vergangenen drei Jahren hier allerdings nicht so viel wie davor. „Ich habe es immer mal wieder versucht, manchmal gelingt es, manchmal nicht. Ich bin hier schon frei, aber nicht genug, um zu malen“, sagt sie achselzuckend. Zurzeit töpfert sie deshalb lieber und das fast jede Woche in einer Werkstatt. „Ich muss einfach zwei- oder dreimal die Woche hier raus.“
Langeweile gibt es für sie nicht, wie sie selbst sagt. „Am Anfang war ich hier auch viel im Garten unterwegs“, erzählt Timmer. Auch einige Bänke dort hat sie gemeinsam mit anderen abgeschliffen und bemalt. Jetzt leuchtet das einst eintönige, einfarbige Material in bunten Farben. „Das ist gleich eine ganz andere Atmosphäre“, betont die Seniorin.
Zwei ihrer ehemals vier Geschwister leben heute noch in den Niederlanden. „Das letzte Mal habe ich sie vor zwei Jahren besucht“, erzählt Timmer. Seitdem skypen und telefonieren sie regelmäßig. „Ich möchte aber unbedingt noch mal dorthin“, betont die 86-Jährige.
Mobil ist sie auf jeden Fall noch. Obwohl sie im Januar einen Unfall hatte, bei dem ein ausparkendes Auto sie erfasste, weil der Fahrer Gas und Bremse verwechselt hatte. „Ich habe mich wieder hochgekämpft“, erzählt Timmer. Sie weiß von vielen anderen älteren Menschen, dass sie sich nach langer Zeit im Krankenbett nicht mehr aufraffen können. Und auch für sie sei es schwer gewesen. „Aber meine Freunde haben mich unterstützt. Ohne die hätte ich es nicht geschafft.“
„Man muss einfach
dranbleiben“
Heute sitzt Timmer wieder auf dem Fahrrad und das regelmäßig. Erst vor Kurzem fuhr sie mit dem Fahrrad bis nach Raubling. „Da habe ich mich davor schon gefragt, ob ich das schaffe. Aber mit Pausen klappt das“, sagt sie. Man müsse einfach dranbleiben. Auch mit Bus oder Bahn kann sie sich gut fortbewegen. „Klar ist es leichter, sich vor den Fernseher zu setzen. Aber so ein Mensch bin ich nicht“, meint Timmer und lacht.
Mit dem Street-Art-Projekt ist für sie ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen. „Ich habe mir die anderen Gemälde in Rosenheim schon vorher angeschaut. Und mir auch gewünscht, mal jemandem beim Malen zuzusehen.“ Beim Workshop konnte sie dann aber sogar selbst anpacken, gemeinsam mit dem Künstler Johannes Brechter. „Er hat am Anfang alles abgeklebt und dann durfte ich malen“, erinnert sie sich. Es sei außergewöhnlich gewesen, auf der Hebebühne zu stehen, alles mal von oben zu entdecken. „Auch zu sehen, wie das mit der Hebebühne funktioniert, war sehr interessant“, betont sie.
Für den Münchner Künstler Johannes Brechter, der die Fassade des Seniorenwohnheims gestaltete, war es das erste Projekt mit Senioren, wie er auf OVB-Anfrage erzählt.
„Die Zusammenarbeit war sehr respektvoll, interessiert und engagiert gewesen. Für mich ist Frau Timmer ein tolles Vorbild“, betont Brechter. Sie zeige, dass man auch im Alter noch viele Sachen machen und auch neue Dinge ausprobieren kann.
Für Leni Timmer war es deshalb klar, dass sie die Chance ergreift und gemeinsam mit dem Künstler auf die Hebebühne steigt. „Ich würde gerne auch mal erleben, wie so ein Kunstwerk gesprayt wird“, sagt sie nachdenklich. Die Chance dazu bekommt sie vielleicht nächstes Jahr. „Ein neuer Street-Art-Workshop ist wohl schon in Planung“, erzählt Timmer und schmunzelt. Da will sie auf jeden Fall wieder mitmachen.