Zum Bericht „Bibel-Klau misslungen – Pfarrerin stellt Dieb im Ulmer Münster“ (Weltspiegel):
Der Artikel über den Versuch, eine Altarbibel zu stehlen, beginnt mit: „Hätte er in dem Buch gelesen, wäre er auf das Gebot ‚Du sollst nicht stehlen‘ gestoßen.“ Das ist zwar ein netter Anfang, aber geht an dem Sinn des Gebotes vorbei.
Die jüdischen Rabbinen der Entstehungszeit des Talmud (also der Jahre vom Anfang der christlichen Zeitrechnung bis ungefähr 500 nach Christus) haben sich mit der Frage befasst, worauf sich dieses Gebot bezieht. Sie sahen sich den Zusammenhang an, in dem dieses Gebot steht. Die Gebote, die diesem Gebot unmittelbar vorangehen und folgen, betreffen Personen (Sabbatruhe, Vater und Mutter ehren, nicht morden, nicht ehebrechen, nicht als Lügenzeuge auftreten). Daraus schlossen sie, dass sich „Du sollst nicht stehlen“ auch auf Personen bezieht. Es verbietet Menschenraub, das heißt, einen freien Menschen in seine Gewalt zu bringen und zu versklaven. Wir haben zwar nicht mehr die Rechtsform der Sklaverei, aber wahrscheinlich erinnert sich noch jeder an Berichte über junge Frauen aus Osteuropa, denen „gute Freunde“ versprachen, sie in den Westen zu bringen, wo sie dann in Zwangsprostitution landeten. Derartiges ist ein Fall für das sechste Gebot, nicht der Diebstahl von Altarbibeln. In der Vergangenheit war die Kenntnis vom alten Orient sehr mangelhaft und die christlichen Theologen kümmerten sich nicht um die Meinungen der Juden. So bezieht Luther das sechste Gebot in seinem kleinen Katechismus auf Diebstahl von Geld und Gut. So habe ich es vor 65 Jahren auch im Konfirmandenunterricht gelernt. Das hat sich zum Glück geändert und die heutigen Theologen teilen die Meinung der Rabbinen über das sechste Gebot als Verbot von Menschenraub.
Klaus Wulff
Bad Aibling