Paula N.: „Meine Großmutter verstarb 2009 als Witwe im Alter von 95 Jahren in einem Seniorenheim. Wir wissen, dass sie seit längerer Zeit an Demenz litt. Sie hinterließ zum Todeszeitpunkt ein Vermögen von über 100 000 Euro. Das erste Testament wurde von ihr 2004 notariell erstellt. In diesem Testament wurden ihr Sohn I, Sohn II (mein Vater, der dann 2007 vor ihr verstarb) und die Tochter des Sohnes III (der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war) zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. 2007 wurde dann ein neues Testament zugunsten Sohn I als Alleinerben erstellt, indem gleichzeitig das erste Testament widerrufen wurde. Meine Frage: Falls sich die Demenz vor der Errichtung des zweiten Testamentes bescheinigen lässt, kann ich heute dieses letzte Testament noch anfechten?“
Bei einer Demenzerkrankung baut die Leistungsfähigkeit des Hirns allmählich, manchmal auch plötzlich, aber immer unumkehrbar, ab. Die Demenzerkrankung ihrer Großmutter bedeutet also nicht automatisch, dass sie zum Zeitpunkt der Errichtung ihres Testaments bereits testierunfähig war. Es kommt vielmehr auf die Schwere der Erkrankung und den Grad des Hirnabbauprozesses an.
Beginnende oder leichte Demenz schließt die Testierfähigkeit nicht aus. Die Fähigkeit zu testieren, setzt Einsichts- und Steuerungsfähigkeit voraus. Kognitiv muss der Erblasser den Inhalt des von ihm verfassten Testaments gedanklich verstehen und sich über die Folgen bezüglich der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aller Betroffenen ein klares Urteil bilden können.
Ebenso wichtig ist die „Steuerungsebene“: Nur wer in der Lage ist, sich frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritter ein eigenes Urteil zu bilden, kann ein wirksames Testament errichten. Bloße Willensschwäche oder leichte Beeinflussbarkeit reichen nicht aus, solange trotz der Einflussnahme noch eine eigene Abwägung des Testierenden stattfindet. Wer jedoch, auch ein Zeichen von Demenz, dem Fremdeinfluss keinen eigenen Willen mehr entgegensetzen oder dessen Einflussnahme nicht mehr hinterfragen kann, ist als testierunfähig einzustufen.
Die Abgrenzung ist im Einzelfall äußerst schwierig. Wer glaubt, dies mit „gesundem Menschenverstand“ beurteilen zu können, irrt. Das OLG München hat erst im Gurlitt-Fall wieder ausdrücklich betont, dass einer Fremdeinschätzung von medizinischen Laien grundsätzlich keinerlei Gewicht beizumessen ist. Hierzu bedarf es sowohl medizinischen als auch juristischen Sachverstands.
Was bedeutet dies konkret für Ihren Fall? Von folgenden zwei Grundsätzen ist auszugehen: Ein Erblasser gilt bis zum Beweis des Gegenteils als testierfähig. Andererseits – und dies ist günstig für Sie – muss das Nachlassgericht von Amts wegen die Testierfähigkeit prüfen, allerdings nur dann, wenn für den Nachlassrichter konkret hinreichende Zweifel an der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung bestehen. Diese Überprüfung muss das Gericht auch dann vornehmen, wenn bereits Jahre seit dem Tod verstrichen sind.
Heißt also: Sie als diejenige, die die Testierunfähigkeit beweisen möchten, müssen bei Gericht vortragen, dass Ihre Großmutter bereits so verwirrt oder zumindest in ihrer Geistesleistung so stark eingeschränkt war, dass sie im Jahr 2007 die Tragweite ihrer testamentarischen Anordnungen und deren Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aller Betroffenen nicht mehr klar beurteilen konnte. Dann wird, ja muss das Gericht eine genaue Überprüfung vornehmen, gegebenenfalls durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens.
Sie müssen also Informationen sammeln. Die höchste Aussagekraft hat die ärztliche Dokumentation über die Behandlung Ihrer Großmutter. Nur: Meist werden Sie unter Hinweis auf die ärztliche Verschwiegenheit keine Einsicht in die Krankenunterlagen erhalten. Spätestens an dieser Stelle sollten Sie sich anwaltlicher Unterstützung versichern, denn die ärztliche Schweigepflicht gegenüber Verstorbenen ist kein Dogma. Auch wenn dies erfolglos bleibt, so besteht noch die Möglichkeit, über das Nachlassgericht im Wege der Amtsermittlung solche Unterlagen anfordern zu lassen.
Damit ein Nachlassrichter tätig wird, müssen Sie den Sachverhalt so konkret vortragen, dass er daraus ernsthafte Zweifel an der Testierfähigkeit im Jahr 2007 ableiten kann. Deshalb sollten Sie folgende Fragen klären: War Ihrer Großmutter bewusst, dass sie durch das neue Testament mit der Einsetzung des „Sohnes I“ die anderen Abkömmlinge enterbt hat? Konnte sie solche Überlegungen überhaupt noch anstellen? Hat sie mit Angehörigen oder Dritten darüber gesprochen? Oder wurde sie – fremdbestimmt – zum Notar geschleppt? Meist wird man zu solch konkreten Gesprächen oder Vorgängen nichts herausfinden.
Dann müssen die Fragen allgemeiner gestellt werden: Wann wurde die Demenzerkrankung erstmals diagnostiziert? Was war der Grund der Umsiedlung in ein Seniorenheim? Stand sie unter rechtlicher Betreuung? Wurde sie engmaschig medizinisch betreut? Konnte man sich im Jahr 2007 mit der Großmutter noch über Dinge des Zeitgeschehens unterhalten oder beschränkte sich die Kommunikation auf Essen und Alltagsdinge? Konnte sie sich Erzähltes noch merken? Konnte sie noch gedanklich geordnet erzählen? Konnte sie die Uhrzeit noch richtig erkennen und danach ihren Tagesablauf einrichten? Sagte sie in knapper zeitlicher Folge immer wieder das Gleiche? Konnte sie noch mit Geld umgehen? War sie von Medikamenten abhängig? Litt sie an Wahnvorstellungen (dazu zählt auch, vermeintlich beobachtet oder regelmäßig bestohlen zu werden)?
Angesichts der schwierigen und komplexen Materie werden Sie nicht umhin kommen, sich eines auf diesem Fachgebiet erfahrenen Anwalts und dessen Sachverstandes zu bedienen, um hier die richtigen Fakten mit den richtigen Folgerungen bei Gericht vorzutragen.