Interview zu den Turbulenzen an den Aktienmärkten

„Nicht ins fallende Messer greifen“

von Redaktion

Vergangene Woche ging es an der Wall Street kräftig bergab. Am Donnerstag rauschte der Dow Jones noch mal ordentlich in die Tiefe. Kapitalmarktanalyst Stefan Scheurer von Allianz Global Investors warnt Anleger aber trotz der Kursverluste vor einer Kurzschlussreaktion.

-Haben wir an den US-Aktienmärkten tatsächlich nur eine Korrektur beobachtet, wie es zu Wochenbeginn hieß, oder herrscht an den Börsen allmählich Hysterie?

Nein. Ich würde das, was gerade in den USA passiert, als eine gesunde Korrektur bezeichnen.

-Warum?

Man muss wissen, woher wir kommen: Wir haben bis vor einer Woche noch regelmäßig Allzeithochs an den Börsen gesehen – sowohl in den USA als auch in Europa. Daher war die Korrektur, die wir im Laufe der Woche hatten, sehr gesund. Die Sorglosigkeit der Anleger der vergangenen Wochen und Monate ist jetzt zu Ende, die Anleger wurden aufgeschreckt. Am Markt ist man sich bewusst geworden, dass Risiken auf der Straße liegen.

-Den ersten Kursrutsch gab es bereits am Freitag vor einer Woche, nachdem die US-Behörden die Daten zur Arbeitsmarkt- und Lohnentwicklung veröffentlicht haben. Wie kann es sein, dass eigentlich positive Zahlen an den Märkten ein derartiges Beben ausgelöst haben?

Wir sagen seit einem Jahr: Die Inflation wird kommen. Aber die Anleger haben dieses Risiko bislang vernachlässigt. Stattdessen hat jeder nur die hohe Liquidität der Zentralbanken gesehen. Aber niemand hat so recht geglaubt, dass eine geringere Arbeitslosigkeit zu einer höheren Inflation führen wird.

-Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?

Sinkt die Arbeitslosigkeit, haben die Gewerkschaften mehr Spielraum, höhere Löhne zu fordern. Das heißt aber auch, dass die Unternehmen bei höheren Löhnen mit Kostensteigerungen zu kämpfen haben. Das kompensieren sie damit, dass sie ihre Preise erhöhen – und das führt zu einer höheren Inflationsrate.

-Solche Zusammenhänge müssten an den Märkten doch bekannt sein.

In den vergangenen Wochen hat diesem Gedanken aber keiner wirklich Glauben geschenkt. Erst am Freitag vor einer Woche hat man zum ersten Mal Schwarz auf Weiß gesehen: Das Lohnniveau zieht an und wird sich konjunkturell bemerkbar machen. Für viele Anleger war das ein Aha-Effekt, weil sie plötzlich merkten: Erstens kommen jetzt Lohnzuwächse, zweitens kommt damit die Inflation und drittens wird die US-Notenbank in der Folge die Zinsen schneller anheben als erwartet. Nur waren diese erwarteten Zinsschritte an den Börsen bis dahin noch nicht eingepreist, mit den Aktienkursen ging es abwärts.

-Vergangene Woche war viel die Rede von sogenannten Stop-Loss-Orders, also Orders, bei denen ein Verkauf automatisch ausgelöst wird, weil der Kurs eine gewisse Mindestschwelle erreicht hat. War das ein zusätzlicher Brandbeschleuniger?

Bei einigen großen Verkäufen mag das eine Rolle gespielt haben. Man sieht in den Kursen durchaus eine Art Kaskadeneffekt. Es kann aber auch genauso gewesen sein, dass ganz normale Kleinanleger den Kursrutsch befeuert haben, weil sie sich überlegt haben, ob das jetzt die lang erwartete Korrektur war und vorsichtshalber einmal Kursgewinne realisiert haben. Jetzt sind wir in einer Phase, in der die Märkte überverkauft sind. Und an den Märkten hat man bereits wieder damit angefangen, die positiven Aussichten in den Fokus zu rücken. Zum Beispiel eine solide Konjunktur und eine gute Bewertung der Unternehmen. Bald startet in den USA die Berichtsaison und es ist mit hohen Gewinnen der Unternehmen zu rechnen.

-Heißt das für Anleger, dass der Zeitpunkt erreicht ist, sich wieder etwas ins Depot zu nehmen?

Da wäre ich vorsichtig. Noch weiß niemand, wann sich die starken Schwankungen wieder etwas legen. Die Unsicherheit ist nach wie vor da. Ich würde jetzt nicht in ein fallendes Messer greifen. Stattdessen würde ich die Entwicklung nüchtern beobachten.

-Viele Anleger besitzen Fonds und streuen sie global. Wenn jemand Fonds mit US-Werten besitzt: Ist jetzt eher der Zeitpunkt, sich aus dem US-Markt zu verabschieden und in deutsche Fonds zu investieren?

Ich warne davor, wegen der jüngsten Entwicklung an den Märkten vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Wenn wir die aktuellen Kurse einmal mit denen zu Jahresbeginn vergleichen, sehen wir: Wir stehen ziemlich genau auf Null. Im Vergleich zum Vorjahr sind wir noch immer zweistellig im Plus. Man darf sich jetzt nicht von seinen Gefühlen leiten lassen. Ich würde die Märkte nüchtern beobachten, mittel- bis langfristig planen und mein Portfolio breit und global aufstellen – das bleibt weiterhin die richtige Strategie. Man darf auch die Dividenden nicht vergessen: Die US-Unternehmen sitzen auf viel Liquidität und können hohe Ausschüttungen locker stemmen.

-Wer als deutscher Anleger US-Aktien besitzt, muss immer den Wechselkurs im Hinterkopf behalten. Jetzt haben steigende Zinserwartungen in den USA zu Kurseinbrüchen geführt. Erfahrungsgemäß steigt auch der Dollar-Kurs, wenn die US-Zinsen steigen. Kann dieser Wechselkurs-Effekt die US-Verluste von deutschen Anlegern kompensieren?

Theoretisch ist das möglich. Aber ich würde dringend davon abraten, solche Rechnungen aufzumachen. Man sieht an den Wechselkursen momentan: Der Dollar tendiert eher zur Schwäche als zur Stärke, während der Euro völlig zu Recht stark ist. Gerade als Kleinanleger sind solche Währungsrechnungen riskant.

-Worauf führen Sie die Dollar-Schwäche zurück?

Die US-Konjunktur befindet sich am Ende ihres Konjunkturzyklus. Im zweiten Halbjahr rechnen wir damit, dass das Wachstum in den USA etwas an Schwung verlieren wird. Das andere Problem ist das Staatsdefizit in den USA: Die Steuerreform führt zu einem größeren Defizit im Haushalt, und das ist für den Dollar nicht gerade förderlich. Wir halten den Dollar für zehn Prozent überbewertet.

-Eingangs hatten Sie gesagt, dass wir derzeit lediglich eine Korrektur an den Börsen beobachten. Wenn jetzt die Zinsen anziehen und die US-Konjunktur an Schwung verliert, dann klingt das so, als sei die große Party an den Aktienmärkten erst einmal vorbei.

Die Sorglosigkeit ist sicher vorbei, was sich zum Beispiel darin äußerte, dass die steigenden Zinsen nicht annähernd eingepreist waren. Aber ein Weltuntergangsszenario ist das noch lange nicht. Die Konjunktur und auch die Aktienmärkte können höhere Zinsen locker vertragen. Wir müssen uns auch hier noch einmal vor Augen führen, wo wir ursprünglich herkommen: In den USA liegt der Leitzins momentan bei 1,25 Prozent. Die Wirtschaft kann daher leicht drei Zinsschritte verkraften. Zinsen von 2,0 Prozent oder etwas mehr sind überhaupt kein Problem. In der Vergangenheit konnten die Aktienmärkte sogar mit Zinsen von bis zu vier Prozent gut leben. Die Aktienmärkte sind auf die Spritzen der Notenbanken eigentlich nicht angewiesen.

-Wo sehen Sie den Dax zum Jahresende?

Die Kapitalmärkte werden vom globalen Konjunkturaufschwung wie auch von den Unternehmensgewinnen gut unterstützt, davon sollte der Dax profitieren. Wir haben jetzt eine gesunde Korrektur gesehen, aber keine Trendumkehr. Anleger müssen sich lediglich darauf einstellen, dass es mittelfristig größere Schwankungen als zum Beispiel im letzten Jahr geben wird.

Interview: Sebastian Hölzle

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