Martin Lück, wohl einer der besten Kenner des Kapitalmarktes, bleibt auch für das kommende Jahr zuversichtlich – wegen abklingender Pandemie, abnehmender Probleme in den Lieferketten und einem anziehenden Konsum. Und die Zinsen bleiben weiter im Keller, sagt der Leiter Kapitalmarktstratege für Deutschland, die Schweiz, Österreich und Osteuropa beim weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock. Der promovierte Volkswirt und Bankkaufmann arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren in der Branche, vor Blackrock unter anderem als Chefvolkswirt bei UBS Deutschland. Hier seine Perspektiven für das kommende Jahr. Am 23 Dezember schloss der Dax bei 15 756,31 Punkten
Wie ist das Börsenjahr 2021 aus Ihrer Sicht gelaufen? Sind Sie von der Entwicklung überrascht? Immerhin hat der Deutsche Aktienindex Dax zweistellig zugelegt und zwischenzeitlich neue Rekorde erreicht – trotz Corona.
Ende 2020 war ich zuversichtlich, dachte aber wir würden wegen der vorhandenen Impfstoffe weiter kommen. Und aus der Pandemie heraus. Ein Neustart sozusagen. Trotzdem blicken wir jetzt auf ein sehr gutes Aktienjahr zurück, das sogar noch besser hätte laufen können, wenn Corona und die damit verbundene Unsicherheit die wirtschaftliche Entwicklung nicht gebremst hätte.
Was waren trotzdem die Treiber?
Die Zinsen waren 2021 weiter extrem niedrig, real sogar negativ. Und sie sind immer weiter ins Minus gerutscht. Zum anderen sind die Gewinne der Unternehmen deutlich gestiegen. Sie konnten in erstaunlichem Maß höhere Preise durchsetzen. Verbraucher waren bereit, diese Preise zu bezahlen, weil sie wegen Corona und des Lockdowns bis in das Frühjahr hinein ohnehin nur begrenzt Geld ausgegeben und viel gespart haben. Das hat vor allem die Aktienkurse angeschoben.
Schauen wir auf das neue Jahr. Was erwarten Sie für den Aktienmarkt?
Zunächst sind immer noch zu wenige Menschen geimpft und das angesichts der Tatsache, dass wir in eine Winterwelle hineinlaufen und die Folgen der Omikron-Virus-Variante erst noch sichtbar werden. Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass wir 2022 aus der Pandemie in eine Endemie kommen und lernen, mit dem Virus zu leben. Verschwinden wird es nicht. Es wird wohl jährliche Impfungen geben müssen. Aber es gibt Chancen, dass wir einen Weg aus der Krise finden.
Aber es bleiben Inflationsängste, Probleme in den Lieferketten, hohe Energiepreise. Das wird möglicherweise auch den Aktienmarkt treffen.
Ich fürchte, Omikron lässt die Neuinfektionen stark steigen, unsere Mobilität einschränken, auch wenn es nicht zu einem neuen Lockdown kommt. Das Wachstum wird im Winter und damit auch im nächsten Jahr deutlich gedämpft. Die Prognosen werden schon jetzt stark zurückgenommen. Selbst ein Wachstum von knapp unter vier Prozent in Deutschland erscheint aus heutiger Sicht ambitioniert. Aber ab dem zweiten Quartal sollten wir eine deutliche Erholung sehen.
Wer profitiert dann?
Es dürfte vor allem der Dienstleistungssektor sein und hier die Reisebranche, also etwa Reiseveranstalter und Airlines, die bisher besonders stark von Einschränkungen betroffen waren.
Im Maschinenbau rechnet man mit Problemen in den Lieferketten bis Mitte nächsten Jahres.
Das wird so sein. Das liegt auch an Strukturveränderungen und einer De-Synchronisierung der Weltwirtschaft durch die Pandemie. Darüber wird abgesehen von Problemen etwa in der Containerschifffahrt kaum gesprochen. China hat bereits im Frühjahr 2020 seine Wirtschaft wieder hochgefahren, ein Jahr früher, als das in Europa und in den USA der Fall war. Bis zum Beginn der Pandemie sind die großen Volkswirtschaften synchron gelaufen. Dann hat sich China mit seinem Vorsprung Rohstoffe und Vorprodukte gesichert.
Die Inflationssorgen sind zum Teil beträchtlich.
Die Inflation wird sicher nicht so hoch sein wie in diesem Jahr. Der Effekt der Anfang 2021 wieder normalisierten Mehrwertsteuer fällt weg, wie die Folge der auch erstmals erhobenen CO2-Abgabe. Mehr noch gilt das für den Ölpreis. Im Frühjahr 2020 lag er faktisch bei null, war kurzzeitig sogar negativ. Ein Jahr später stand das Fass bei 60 und 70 Dollar. Das ist natürlich ein gigantischer Basiseffekt. Auch der dürfte 2022 wegfallen. Das gilt generell für die Energiepreise. Wenn zudem das Problem der Lieferketten und damit von Knappheiten im Angebot überwunden wird, sorgt das für weitere Entlastung. Die Inflationsrate dürfte sich in der zweiten Jahreshälfte wieder dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent annähern.
Wie beurteilen Sie die Geldpolitik, was erwarten Sie 2022? Sie haben unlängst gesagt, dass eine Zinserhöhung selbst mit dem Fernrohr nicht zu erkennen sei.
Stimmt. Im Frühjahr wird die EZB aus dem Pandemieprogramm PEPP aussteigen, dafür aber vorübergehend die sonstigen Anleihekäufe kräftig ausweiten. Die Geldpolitik bleibt also sehr großzügig. Und sollte die Inflation zurückgehen wie erwartet, dürfte sich das auch als richtig erweisen. An den Zinsen wird die EZB jedenfalls 2022 aller Voraussicht nach nicht drehen.
In Deutschland sind die Auftragsbücher der Unternehmen voll. Das spricht doch für einen Boom, sobald die Pandemie im Griff ist und die Lieferprobleme überwunden sind.
Tatsächlich sind die Auslieferungen wie auch die Nachfrage generell nur aufgeschoben, weil auch die Menschen wieder mehr Geld ausgeben werden.
Welche Rolle spielt die neue Bundesregierung für die Börse?
Kurzfristig ist das kein Thema, weil sich auch ein Wechsel der Regierung in Deutschland weitgehend in der politischen Mitte abspielt. Längerfristig aber ist die neue Regierung durchaus auch für den Aktienmarkt relevant. Die Ziele der Ampel sind ambitioniert: Renovierung des Landes, Entschlackung der Bürokratie, Digitalisierung, Investitionen in die grüne Transformation, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Wie geht man mit China um? Da wird in Berlin ein dickes Brett gebohrt. Da schaut auch die Börse drauf. Auch die Agenda 2010 hat dem Aktienmarkt einen Schub gegeben.
Wo sehen Sie den Dax Mitte und Ende 2022?
Gute, aber schwierige Frage. In der ersten Jahreshälfte werden Wirtschaft, Bürger und auch die Börse noch stark mit den Folgen von Corona beschäftigt sein. Die Aktienkurse werden sich vermutlich wenig, eher seitwärts bewegen und etwa auf dem derzeitigen Niveau verharren. Dann dürfte es aufwärts gehen mit einem Plus von sieben bis acht Prozent im Vergleich zu 2021. Das hieße für den Dax etwa 16 500 Zähler oder auch noch etwas mehr Ende 2022. Es sollte wieder ein solides bis gutes Börsenjahr werden.
Interview: Rolf Obertreis