Die Erwartungen waren eher gedämpft und von sorgenvollen Blicken geprägt. Am Ende ist der Mai an der Börse zwar mit erheblichen Schwankungen, aber deutlich besser gelaufen als erwartet. Unter dem Strich steht seit Ende April im Deutschen Aktienindex Dax ein Plus von knapp 500 Punkten oder rund 3,5 Prozent. Allerdings sind die Sorgen weiter groß. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hält mit unverminderter Stärke an, die Energiepreise bleiben ebenso hoch wie die Preise an den Tankstellen, trotz der deutlichen Steuererleichterungen. Die Lieferketten sind weiter gestört, auch wenn es durch das Ende des Lockdowns in Shanghai eine leichte Entspannung geben könnte. Die Inflation galoppiert weiter und die Zinsen steigen. Trotz der leichten Erholung in den letzten Wochen bleiben Experten skeptisch. Viele sprechen von einer Bärenmarkt-Rally – einer zwischenzeitlichen Erholung in einem negativen Umfeld. Der Markt stehe noch auf zittrigen Beinen, sagt Robert Halver von der Baader Bank. Uwe Streich, Chef-Stratege der Landesbank Baden-Württemberg, sieht keine echte Trendwende. Er wähnt im möglichen Zudrehen des Hahns für russisches Gas nicht nur das größte Risiko für die Wirtschaft, sondern auch für Aktien. Generell erwartet Streich noch für einige Zeit Probleme an der Börse. Es werde noch Rücksetzer geben, bevor im Laufe des zweiten Halbjahres eine Erholung einsetze. Am Jahresende erwartet der LBBWler im Dax aktuell 14 750 Punkte.
Zwar steigen am Kapitalmarkt bereits die Zinsen. Die Rendite für zehnjährige Bundesanleihen ist wieder auf 1,2 Prozent geklettert. Aber angesichts einer Inflationsrate von knapp acht Prozent steht unter dem Strich real ein dickes Minus. „Anleihen sind keine attraktive Anlageklasse“, sagt Klaus Kaldemorgen, renommierter Fondsmanager bei der Deutsche Bank-Tochter DWS. „Aktien sind trotz hoher Volatilität weiter die beste Alternative mit dem höchsten Ertragspotenzial“ Auch wenn schwierig zu sagen sei, ob die Börse allmählich ihren Boden gefunden habe. Nominal könnten Aktien in diesem und in den nächsten Jahren eine Rendite von sieben Prozent jährlich bringen. „Damit sollte man zufrieden sein“, sagt Kaldemorgen. Nach Abzug der Inflation würde das in diesem Jahr immerhin einen Werterhalt des Depots bedeuten.
Den Dollar betrachtet Kaldemorgen derzeit als einzig wirklich „sicheren Hafen“. Gold wird zwar stark nachgefragt – in Deutschland wurden im ersten Quartal laut Edelmetallkonzern Heraeus von Privatanlegern Barren und Münzen mit einem Gewicht von gut 47 Tonnen gekauft – aber der Preis je Feinunze dümpelt seit Wochen zwischen 1850 und 1900 Dollar je Feinunze (31,1 Gramm).
Gold gilt zwar als Inflationsschutz, wirft aber weder Zinsen noch eine Dividende ab. Und weil die Zinsen steigen, leidet der Goldpreis. Aber die Vorsicht an der Börse dominiert weiter, auch wenn Baader-Stratege Halver zumindest ein paar Licher am Ende des Tunnels sieht. Um gleich hinzuzufügen: „Wir sind noch nicht durch.“ ROLF OBERTREIS