Wer pflegebedürftige Angehörige hat und möchte, dass die betroffene Person in einen Pflegegrad eingestuft wird, kann dazu ein Gutachten erstellen lassen. Wie eine Auswertung des ARD-Politmagazins „Report Mainz“ zeigt, sind diese Gutachten aber oft fehlerhaft. In vielen Fällen lohnt es sich daher, Widerspruch einzulegen. Bei Einstufung in einen höheren Pflegegrad haben Betroffene deutlich mehr Ansprüche auf Geld- und Sachleistungen (siehe Tabelle).
Wo kann der Pflegegrad beantragt werden?
Pflegeleistungen müssen bei der Pflegekasse beantragt werden, heißt es bei den Experten der Verbraucherzentralen. „Kontaktieren Sie dazu Ihre Krankenkasse, dort sitzt die Pflegekasse.“ Ein Anruf, eine E-Mail oder ein kurzer Brief genüge. „Ist die pflegebedürftige Person zum Beispiel bei der AOK versichert, reicht es aus, den Antrag an die AOK zu senden und darauf hinzuweisen, dass dieser an die Pflegekasse weitergereicht werden soll.“ Ist der Antrag bei der Pflegekasse eingegangen, schickt diese ein Formular zurück.
Was ist beim Ausfüllen des Formulars zu beachten?
Da das Ausfüllen des Formulars kompliziert ist, kann die Inanspruchnahme von Hilfe sinnvoll sein. „Jeder hat Anspruch auf Beratung: Die Pflegekasse ist verpflichtet, innerhalb von zwei Wochen nach der Antragstellung einen Ansprechpartner zu nennen“, erklären die Verbraucherschützer. Auch könnten sich Betroffene jederzeit an die Pflegeberatungsstelle wenden.
Was geschieht, nachdem das Formular verschickt und der Pflegegrad beantragt ist?
Dann beauftragt die Pflegekasse den Medizinischen Dienst (MD) damit, die Pflegebedürftigkeit der betroffenen Person festzustellen. Konkret bedeutet das: Ein Gutachter kommt ins Haus, um sich ein Bild vom Grad der Pflegebedürftigkeit zu machen. Der Termin wird in der Regel rechtzeitig angekündigt. Geprüft wird beispielsweise die Mobilität der betroffenen Person, psychische Problemlagen, kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie die Bewältigung des Alltagslebens.
Können sich Angehörige auf den Termin des Gutachters vorbereiten?
Ja. Das eine ist das Zusammentragen von wichtigen Dokumenten, zum Beispiel über den bisherigen Krankheitsverlauf. Und die Pflegebedürftigen selbst sollten sich innerlich auf eine für sie womöglich unangenehme Situation einstellen. „Teilweise wird die Begutachtungssituation von Pflegebedürftigen als ungewohnt empfunden“, warnen Verbraucherschützer. Betroffene müssten darlegen, dass sie bestimmte Alltagstätigkeiten nicht mehr selbstständig erledigen können. Die Fragen des Gutachters könnten daher als peinlich oder unangenehm empfunden werden, da es auch um Themen geht, über die man sich sonst selten mit Fremden unterhalte.
Ebenfalls wichtig: Der Gutachtertermin ist keine Prüfungssituation wie in der Schule. Es geht nicht darum, möglichst gut abzuschneiden. „Manchmal wird die Pflegesituation seitens des Pflegebedürftigen sehr geschönt dargestellt“, haben Verbraucherschützer beobachtet. Der Grund sei womöglich Scham oder eine fehlerhafte Selbsteinschätzung. „Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn eine demenzkranke Person von sich das falsche Bild hat, sie könne sich noch sehr gut alleine versorgen.“ Passiert das, sollten Angehörige einschreiten. Sie können den Verlust der Fähigkeiten und der Selbstständigkeit realistisch beschreiben. Hier könne auch ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Gutachter hilfreich sein, lautet der Tipp der Verbraucherschützer.
Lässt sich die Lage eines Pflegebedürftigen auch schlechter darstellen, als sie tatsächlich ist?
Von solcher Schauspielerei raten Verbraucherschützer explizit ab. Gutachter seien erfahren und stellten schnell fest, wenn die Situation schlechter dargestellt würde, als sie tatsächlich sei. Ratschlag der Verbraucherschützer: „Bleiben Sie glaubwürdig und zeigen den tatsächlichen Zustand des Pflegebedürftigen.“
Wie geht es dann weiter?
Im nächsten Schritt teilt der Gutachter der Pflegekasse das Ergebnis der Begutachtung als Empfehlung mit. „Anhand der Empfehlung des Medizinischen Diensts (MD) im Gutachten entscheidet die Pflegekasse über den Pflegegrad“, so die Verbraucherschützer. Die Betroffenen erhalten Post und erfahren, ob der Antrag auf den Pflegegrad bewilligt oder abgelehnt wurde.
Wie sollten Betroffene reagieren, wenn der Antrag abgelehnt oder der gewünschte Pflegegrad nicht bewilligt wurde?
Laut den Verbraucherzentralen haben Betroffene nach Zugang des Bescheids einen Monat Zeit, Widerspruch bei der Pflegekasse einzulegen –am besten per Einschreiben mit Rückschein. Dann geht alles wieder von vorne los: „Im Widerspruchsverfahren überprüft die Pflegekasse ihre Entscheidung noch einmal und es wird in der Regel ein Zweitgutachten erstellt“, heißt es bei den Verbraucherzentralen. Entweder erfolge dieses Gutachten nach Aktenlage oder mit einem erneuten Besuch beim Pflegebedürftigen.
Lohnt sich der Aufwand?
In vielen Fällen eindeutig ja. Die Erfolgsquote ist extrem hoch, wie gestern veröffentlichte Zahlen des ARD-Politmagazins „Report Mainz“ belegen. Demnach wurden 2022 insgesamt 2,5 Millionen Pflegegutachten bei den Medizinischen Diensten erstellt. In 185 000 Fällen wurde dagegen Widerspruch eingelegt – und zwar in vielen Fällen mit Erfolg. Fast 55 000 Mal musste der Pflegegrad „bei gleicher Sachlage korrigiert“ werden, hieß es, also bei knapp 30 Prozent aller Widerspruchsgutachten. Die Folge: Pflegebedürftige würden oftmals in zu niedrige Pflegegrade eingestuft und erhielten nicht die ihnen zustehenden finanziellen Leistungen. Betroffene würden „im Regen stehen gelassen, weil Pflegebegutachtungen nicht korrekt durchgeführt werden“, zitierte das Magazin Katharina Lorenz vom Sozialverband Deutschland (SoVD) Niedersachsen. Die Expertin schätzt, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Denn von den insgesamt 2,5 Millionen Pflegegutachten im Jahr 2022 wurde nur in weniger als acht Prozent der Fälle Widerspruch eingelegt. Lorenz begründet die geringe Widerspruchsquote damit, dass der Bescheid meistens von den Betroffenen hingenommen würde, weil sie einfach nicht mehr die Kraft hätten, sich auch in ein Widerspruchsverfahren zu begeben.
Und was können Betroffene tun, wenn der Widerspruch doch nicht erfolgreich war?
„Bringt der Widerspruch nicht das gewünschte Ergebnis, steht Betroffenen noch der Gang zum Sozialgericht offen“, heißt es bei den Verbraucherzentralen. Gerichtskosten fielen vor dem Sozialgericht in den allermeisten Fällen nicht an. Und falls das Verfahren zugunsten des Pflegebedürftigen ausgehe, würden eigene Anwaltskosten von der Pflegekasse übernommen.