Eine große, vielfältig Liebende

von Redaktion

Dietmar Hundt bei Goethe-Gesellschaft über die Lyrik von Else Lasker-Schüler

Rosenheim – Karl Kraus, auf den ihr Gedicht „Ein alter Tibetteppich“ eine große Faszination ausgeübt hat, nannte sie die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland: Else Lasker-Schüler. In seinem gut besuchten Vortrag stellte Professor Dietmar Hundt die Liebeslyrik der 1869 in Elberfeld geborenen Dichterin in den Mittelpunkt. Hundt sprach auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim im Künstlerhof.

Else Lasker-Schüler sei stets ihren eigenen Weg gegangen, ihr Werk schwer überschaubar und nicht leicht zu verstehen. In einer kurzen autobiografischen Notiz, die sie 1919 für eine Lyrikanthologie schrieb, habe die Dichterin als eine Fantastin angesehen werden wollen. Die Dichterin, die mit Gottfried Benn ein Liebesverhältnis hatte, habe bewusst Daten und Fakten verschleiert und in einer selbstgezimmerten Scheinwelt gelebt. „Else Lasker-Schüler versteckt sich und erfindet vieles“ so Hundt.

Knapp skizzierte der Referent die Biografie Else Lasker-Schülers. Die hochbegabte Tochter eines jüdischen Bankiers galt als ein lebensbejahendes Kind. Bereits mit elf Jahren verließ sie die Schule und wurde privat unterrichtet. 1894 heiratete sie einen Arzt, von dem sie sich bald wieder trennte. In Berlin absolvierte die Dichterin nach der Trennung von ihrem zweiten Mann Herwarth Walden, dem Herausgeber der Kunstzeitschrift „Der Sturm“, eine zeichnerische Ausbildung, bei der sie 1912 Franz Marc kennenlernte, mit dem sie später eine enge Brieffreundschaft verband. 1901 erschien ihr erster Gedichtband, 1932 erhielt sie den Kleistpreis, 1933 ging sie ins Exil in die Schweiz, reiste von dort öfter nach Palästina, wo sie 1945 völlig verarmt starb.

Gedichte voller erotischer Fantasien

Else Lasker-Schülers frühen Gedichte seien voller erotischer Fantasien, etwa die Gedichte „Triebe“, das raubtierhafte Leidenschaftlichkeit ausdrücke, und „Sinnenrausch“, in dem Tod und Hölle wirkungsmächtiger seien als die Tugenden. Ihre bürgerliche Erziehung habe die Dichterin als Fesseln angesehen, die gesprengt werden müssen, so Hundt. Die ständig Getriebene leidet an ihrer „Robinsoneinsamkeit“, ist auf der Suche nach sich selbst und sehnt sich nach einer partnerschaftlichen Liebe. Gottfried Benn, den sie fördert und abgöttisch verehrt, widmet sie viele Liebesgedichte. „Wo sie extreme Inhalte formuliert, ist sie authentisch“, erklärte Hundt den Stil ihrer Gedichte, denen man mitunter Kitsch und Perversität vorwarf.

Zartheit, Berührtheit und Melancholie verströmt das Gedicht „Auf Georg Trakl“, mit dem sie sich wesensverwandt fühlte. Ausführlich analysierte Hundt das geheimnisvolle Liebesgedicht „Ein alter Tibetteppich“, in dem der Teppich die Liebe beider Seelen symbolisiert. Das Gedicht „Ich liebe dich“ thematisiere die partnerschaftliche Liebe in einer tauben, blinden Welt.

Else Lasker-Schüler, so Hundts Resumee, sei neben Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs eine der größten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie lebe weiter als eine „große, vielfältig Liebende mit allen bedrückenden Details.“ gf

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