Goethe und die Religion

von Redaktion

Lesung über Poesie und Religion bei Goethe im Künstlerhof am Ludwigsplatz

Rosenheim – Anlässlich des 500. Jahrestags des Anschlags der Thesen von Martin Luther hielt der Literaturwissenschaftler Ralf Siegel auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim im Künstlerhof einen lebendigen, sachkundigen und gut besuchten Vortrag über „Poesie und Religion“ im Werk von Goethe. Die Texte las Sarah Fischbacher vom Rosenheimer Theater am Markt Ost.

„Goethe hatte ein vorsichtiges, zurückhaltendes Verhältnis zur Religion“, erklärte Siegel. Stets habe der Dichter Offenheit, Neugier und Anerkennen des anderen postuliert. Schon früh sei Goethe, der aus einem protestantischen Elternhaus stammte, mit Religion in Berührung gekommen. Mit der Bibel lernte Goethe Lesen und Schreiben. Der Religionsunterricht habe jedoch nur aus trockener Moral bestanden und nicht das Herz angesprochen. Im Pietismus, von dem er stark beeinflusst wurde, erlebte der junge Goethe hingegen einen lebendigen Ausdruck individueller Spiritualität.

„Goethes Sprachmächtigkeit ist ohne die Auseinandersetzung mit dem Thema Religion nicht zu denken“, so Siegel. In jungen Jahren von den Ideengebern Herder und Lavater beeinflusst, habe Goethe für sein Werk immer wieder auf die Bilderwelt der Bibel zurückgegriffen. Herder habe das „Geniekonzept“ angeregt: Das Genie gibt sich eigene Gesetze und schafft sich selbst die Welt in der Kunst neu. Typisch dafür könnten bei Goethe der nihilistische Werther, der rebellische Prometheus und der positive Götz angesehen werden. „Der ‚Prometheus‘ ist ein Manifest eines freien Menschen, der sich selbst die Gesetze gibt“, erklärte der Literaturwissenschaftler. Im „Götz“ hingegen habe Goethe die Freiheit mit dem Jenseits verbunden.

Religion sei für Goethe als Stoff für sein Werk von Bedeutung. Im „Faust“ habe der Dichter laut Siegel die Geschichte des Hiob, der alles verliert, gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen geschrieben. Faust, der zuerst verbittert ist, wird verjüngt und steht die Welt offen. Der Engelschor in der Osternacht hindert ihn am Selbstmord, mit religiöser Inbrunst übersetzt er das Johannesevangelium. Faust sagt „Im Anfang war die Tat“, wird also zum Täter, der Mephisto herbeiruft. Mephisto aber stelle die göttliche Weltordnung auf den Kopf. Faust repräsentiere den Pantheismus, Mephisto den Nihilismus und Gretchen die kindliche Gläubige.

Im „Wilhelm Meister“ hat Goethe die „Bekenntnisse einer schönen Seele“ nach dem Modell der pietistischen Bekenntnisliteratur gestaltet, in der Frömmigkeit und Offenheit kein Widerspruch seien. „Religion ist hier ein Weg der Individuation, der Freiheit des Menschen, der zu werden, der er ist“, erklärte Siegel. Nicht so wichtig sei für Goethe, wie man glaubt, sondern vielmehr, wie man lebt.

Der „West-östliche Divan“ sei laut Siegel der Ausdruck der Anerkennung fremder Menschen und Kulturen. Goethe, der im persischen Dichter Hafis seinen Zwillingsbruder sah, habe stets das Verbindende der Religionen gesucht, getreu seinem von Toleranz und Humanität gekennzeichneten Grundsatz: „Ich bewundere, was über mir ist, ich beurteile es nicht.“fü

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