Wasserburg/Berlin – Ebenso magisch wie realistisch schildert der am Chiemsee aufgewachsene Berliner Autor Stan Nadolny in seinem neuen Roman „Das Glück des Zauberers“ das vergangene Jahrhundert, das er anhand der Lebenserinnerungen des Zauberers Pahroc darstellt. In zwölf Briefen – der erste datiert von 2012, der letzte vom Mai 2017 – schreibt der Protagonist der Enkelin Mathilda seine ungewöhnliche Lebensgeschichte auf. Sie soll diese Briefe aber erst 2030 zum 18. Geburtstag erhalten.
Nadolny stellt mit dem Halbindianer Pahroc – der Vater war als Reiter mit Buffalo Bills Westernshow nach Berlin gekommen – eine ebenso lebensnahe wie skurrile Kunstfigur vor. In der Welt dieses Romans können Menschen zaubern oder nicht. Am Anfang der Begabung steht der „lange Arm“, mit dem schon Kinder kleine Zaubereien vollbringen können – so wie Mathilda. Im Laufe des Lebens vergrößert sich durch Anleitung von Lehrmeistern das Repertoire. „Zaubern unterscheidet sich von Technik nur dadurch, dass man keine Knöpfe drücken muss“, erklärt Pahroc.
Er lebt ein normales bürgerliches Leben, arbeitet vor dem Krieg bei der Berliner Firma Telefunken als Radiotechniker, übersiedelt dann nach Wasserburg, wo seine Kinder aufwachsen. Ständig muss Pahroc vor missgünstigen Kollegen auf der Hut sein, die als Nazis und in der DDR Karriere gemacht haben.
Neben seiner Darstellung der Weltläufte streut Nadolny wunderbare kleine Szenen ein wie die unterschiedlichen Temperaturempfindungen von Pahroc und seiner Frau Emma: „Wenn mir warm war, fror sie. Wenn es ihr warm genug war, flüchtete ich. Aber da ich für sie wie ein Ofen war, folgte sie mir und suchte meine körperliche Nähe.“
„Ich bin Zauberer, Elektriker und Melancholiker, das reicht mir“, definiert sich Pahroc. In Wasserburg erwartet ihn und seine Familie der Zaubererkollege Kajetan Gnadl, der sich als Verkehrspolizist tarnt. Von einem soeben verstorbenen Elektrohändler übernimmt Pahroc sofort Aussehen und Laden, schlüpft nahtlos in dessen Existenz, so dass dieser quasi weiterlebt – und die Familie als „Flüchtlinge“ aufnimmt.
Um nicht aufzufallen, organisiert Pahroc seine Einberufung zur Wehrmacht und lernt Zaubereien wie den „Kamelmodus“ – auf Vorrat zu essen und zu trinken – sich unsichtbar zu machen oder zu fliegen, was ihm aus Stalingrad heraushilft. Gnadl hingegen muss wegen eines steifen Beines nicht in den Krieg: Er kann dieses eigentlich gesunde Bein auf Röntgenschirmen krumm und verwachsen erscheinen lassen. Nadolny liefert dazu einen aktuellen Seitenhieb: „Die moderne Technik ist in den Tagen, da ich dies schreibe, in der Lage, diese Art von Zauber nachzuahmen. Auf Abgasprüfständen verhalten sich Autos völlig anders als auf der Straße.“
Im Hungerwinter 1945/46 wildert Pahroc mit Gnadl am Geigelstein. Nach Einführung der D-Mark erlernt er von einem Traunsteiner Kollegen das Herbeizaubern von Geld, was die Not lindert, und einer der Söhne beginnt ab 1957 in Rosenheim das Studium der Holzwirtschaft.
Der Zauberer zieht nun wieder zurück nach Berlin. Nach dem Mauerbau betätigt er sich als Fluchthelfer, gründet eine Führungsakademie und nach dem Zusammenbruch der Studentenrevolution therapiert Dr. med. Pahroc die Opfer analytisch als „Druide mit Pokerface“.
Auch wer den neuen Nadolny-Roman mit Pokerface beginnt, wird sich hin und wieder ein Schmunzeln nicht verkneifen können über dieses Kaleidoskop der jüngeren deutschen Geschichte.
Stan Nadolny: „Das Glück des Zauberers“, Roman, Verlag Piper, München 2017, gebunden, 21 mal 14 Zentimeter, 316 Seiten, ISBN 978-3-492-05835-3; 22 Euro.