Herrenchiemsee Festspiele

Bäche von gesalznen Zähren

von Redaktion

Auftaktkonzert im Schatten des Todes von Enoch zu Guttenberg

Chiemsee – Er fehlt: Über dem Beginn der Herrenchiemsee Festspiele schwebte der Todesschatten von Enoch zu Guttenberg, dem charismatischen Gründer und Intendanten dieses Festivals. Aller Ersatz ist eben nur Ersatz. Im Anfangskonzert hieß der Ersatz Andrew Parrot, der englische Spezialist für Barockmusik. Und fast programmatisch besingt der Tenor in einer der Arien „Bäche von gesalznen Zähren“, also Tränen.

Wie immer hatten die Festspiele im Münster Frauenchiemsee mit Bachkantaten begonnen, die irgendwie thematisch aufeinander bezogen sind – oder es sein sollten. Aus irgendeinem Grund wurde eine der vorgesehenen Kantaten ausgetauscht gegen die Kantate, die als erste überlieferte Bach-Kantate gilt: „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir“ (BWV 131) und in der Bach gleichsam noch übte. Sie thematisiert Sünde und Erlösung.

Die Kantate „Es erhub sich ein Streit“ (BWV) 19 eröffnete imposant das Konzert. Der Eingangschor schildert den Kampf des Erzengels Michael gegen Luzifer, den abgefallenen Engel. Orchester und Chor der KlangVerwaltung zeigten da große rhythmische Kraft – aber schon beschlich einen der Gedanke: Guttenberg hätte diese Kraft noch explosiver, himmelstürmender gemacht. Chor und Orchester lieferten sich willig der gezackten Gestik von Andrew Parrot aus, der auch den gewohnt ausdrucksstark gesungenen Eingangschor der Kantate „Aus der Tiefen rufe ich“ in fast typischer Guttenberg-Manier extrem phrasierte. Diese extreme Phrasierung behielt auch das glänzend aufspielende Orchester bei.

Schön dicht klagend und feintönend spielte das Orchester die Eingangs-Sinfonia zur Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21) und geradezu wellenförmig weinend die Begleitung zur Tenor-Arie „Bäche von gesalznen Zähren“, der Chor modellierte die versprochenen erquickenden Tröstungen mit sehr beweglichen Chor-Koloraturen.

Wieder war, wie schon öfters, der Tenor Daniel Johannsen das Interpretations-Zentrum: Er hatte nicht nur die schönsten Arien, er gestaltete sie mit seinem hell durchdringenden Tenor auch am ergreifendsten: Mit hellscharfer Klarheit fragte er, was der schnöde Mensch denn schon sei (in BWV 19), bat bebend und flehend um Engelsschutz (ebenfalls in BWV 19), was die Trompete mit einer sanft und liebreich gespielten Trostchoralmelodie versprach, wartete trotz des tänzerischen 12/8-Taktes drängend und dringend mit seiner Seele auf den Herrn (in BWV 131) und verjagte energisch Kummer und Schmerzen (in BWV 21) mit einer Intensität, die – wie es im Text heißt – brennet und flammet wie die reinste Kerze.

Der Sopran von Sibylla Rubens verschwand bisweilen im Orchesterklang, der Bassist Thomas Laske gefiel mit engagiertem Ausdruck, den tiefgründelnden Alt von Wallis Giunta hätte man gerne öfters gehört. Der alle Musiker vereinende paukendonnernde Schlusschor der Kantate BWV 21 mit dem Gotteslob in Fugenform entfachte einen langen herzlichen Schlussapplaus.

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