Chiemsee – Mit „Love Arias“ war der Abend der Herrenchiemsee Festspiele im Spiegelsaal des Schlosses betitelt, die russische Sopranistin Julia Lezhneva wurde vom Kammerorchester Basel unter der Leitung des Geigers Stefano Barneschi begleitet. „Eine Sternstunde, das musst Du schreiben!“, wurde dem Rezensenten am Ende zugerufen. Vier Zugaben erklatschten sich die restlos begeisterten Zuhörer im vollen Spiegelsaal, die letzte war die Händel-Arie „Lascia ch’io pianga“ aus seiner Oper „Rinaldo“, die Händel mehrmals verwendet hat, unter anderem in dem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ mit dem Text „Lascia la spina, cogli la rosa“ – „Lass doch die Dornen, pflücke die Rose!“
Wahrlich hatte Julia Lezhneva vorher eine Arien-Rose nach der anderen gepflückt, eine schöner, kostbarer und prangender als die andere. Sie hat eine hochsympathische Ausstrahlung, Wärme und Herzlichkeit im Ausdruck und unbändige Freude am Singen im Gesicht, angetan ist sie mit einem goldglitzernden Kleid mit mondscheinblauer Farbe (bei der Farbbestimmung musste der Rezensent Sprachhilfe bei seiner Nachbarin erbeten), das sie nach der Pause durch eines mit noch mehr Goldglitzer eintauschte: Man hört auch mit den Augen.
Sechs Arien waren es im offiziellen Programm, aus Opern von Nicola Porpora, Carl Heinrich Graun, Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel. Die Koloraturen von Julia Lezhneva sind so zart und hell wie Engelslachen, die Melodien strahlen wie der Goldglitzer auf ihrem mondscheinfarbenen Kleid, den Text verlebendigt sie höchst intensiv, die Tongebung ist federleicht, aber die Gestaltung ist bedeutungsschwer, das Forte ist immer warm, die Piani unendlich zärtlich. Sie kann ihren so natürlich klingenden Sopran abschatten, dämpfen, zurücknehmen und dann wieder liebessehnsüchtig aufstrahlen oder schmerzensreich klagen lassen, die Triller kommen ansatzlos aus dem Nichts, die Staccati federn daunenweich, jedes Agitato ist genauso gut gestützt wie jedes Adagio: die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt.
Wenn sie von „morire“, also sterben aus Liebe, singt, möchte man mit ihr dahinschmelzen, der Liebesschmerz, der „dolore“, in der Arie „Senza di te, mio bene“ aus Porporas Oper „Silace“ ist musikalisch aufgelöst und damit seelisch aufgehoben in feinste Fiorituren, zarteste Koloraturen und melodische Miniaturen wie fragilster Rokokostuck, er endet in einer richtigen solistischen A-cappella-Kadenz wie mit dem Silbergriffel gestochen.
Am weitaus wirkungsvollsten waren die Arien von Vivaldi und von Händel: Wie tönender unendlich sanfter Windhauch war die Arie „Zeffirretti, che sussurrate“, also säuselnde Winde, von Vivaldi gesungen, leidenschaftlich hochgepeitscht die Arie „No, di libia fra l’arene“ von Händel, voller Tumult und Grazie, wie der Titel des Händel-Verehrers Karl-Heinz Ott lautet. Und immer ist ein Lächeln in der Stimme und in ihren Augen.
Bei alldem darf das Kammerorchester Basel nicht vergessen werden: Nicht nur umtanzten sie mit ihren Geigen die Sängerin, sie spielten, fast alle im Stehen, historisch informiert, duftig, geigenflirrig-zart und doch auch feurig vier Concerti grossi von Giuseppe Torelli, oft mit Stefano Bamescho als virtuosem Solo-Geiger. Es war wirklich eine Sternstunde der Barockmusik: Hiermit ist es geschrieben.