Neubeuern – Mitten im Festsaal des Neubeurer Dorfwirtes Vornberger fühlte man sich zurückversetzt ins Nachkriegsjahr 1947, umgeben von signifikanten Dingen dieser Zeit: einer Remington-Schreibmaschine, einer Zigarettendose mit Lucky-Strike-Zigaretten mit der eingravierten Inschrift „US.Occupation Zone“ sowie großen Plakatstellwänden mit Texten der Schriftsteller der Gruppe 47, die sich unter den Apfelbäumen von Hinterhör lagerten und die Zukunft der deutschen Literatur diskutierten.
Die Neubeurer Kulturtage waren ganz dieser Gruppe 47 und damit dem Neuanfang der Literatur in Deutschland gewidmet – einem Neuanfang auch mit Literaten, die schon vor dem Kriege sich oft auf Schloss Neubeuern trafen und sich um die legendäre Gräfin Ottonie scharten. Rührend war es, zu hören, wie sie nach der Ankunft in Rosenheim sich zu Fuß auf den Weg machten nach dem Sehnsuchtsort Neubeuern.
Der lange und üppig programmierte erste Kulturtag fand am Abend sein Ende mit einer vielfältigen, man könnte auch sagen flickwerkartigen, Lesung, die nur ansatzweise etwas mit Neubeuern zu tun hatte. Die Schauspielerin Kathi Leitner, ein echtes Neubeurer Gwachs, las zusammen mit Michael Schwarzmaier, Schauspieler und ehemals Schüler im Schloss Neubeuern, aus „Die gute schlechte Zeit“ von Oliver Hassencamp (1921 bis 1988), Kathi Leitner in sympathisch bairisch gefärbtem Idiom, Schwarzmaier in professionellem Hörbuch-Tonfall. In den ausgewählten Textstellen beschreibt Hassencamp die Gründung des Kabaretts „Die kleine Freiheit“ mit Erich Kästner in Schwabing sowie die „Schwabinger Gisela“, die von 1952 bis 1974 ihr weltweit bekanntes Lokal in der Occamstraße 8 in Schwabing führte. Davor gab es zwei Gedichte von Wolfgang Bächler (1925 bis 2007) zu hören, einem Anfangsmitglied der Gruppe 47.
Gar nichts mit Neubeuern zu tun hatte das von Dr. Joachim Seng vorgestellte Buch „Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater.“ Nichtsdestoweniger war es eine kleine Lehrstunde in Gesellschaftsgeschichte, wie ein kleiner Hufschmiedssohn aus Thüringen es vom Schneidermeister zum „Dior von Frankfurt“, so sagte Seng, brachte und, nach Einheirat in einen Gasthof, ein Millionenvermögen erwirtschaftete, von dem Goethes Vater sorgen- und arbeitsfrei leben konnte.
Joachim Seng ist auch Mitverfasser des Buches „Hofmannsthals Orte“, in dem Neubeuern einen wichtigen Platz hat. Die paradiesische Landschaft, die literarische Geselligkeit und die mütterliche Geborgenheit, die die Schlossherrin Ottonie Gräfin von Degenfeld-Schonburg vermittelte, waren die Gründe, warum Hugo von Hofmannsthal (1874 bis 1929) sich in Neubeuern so wohlfühlte: kein Kunststück in so feudal-entspannter Atmosphäre. Im Schloss, das Hofmannsthal als „das beste Nervensanatorium“ bezeichnete, fand der Dichter, so Seng, einen „Ort des sicheren Schwebens im Sturz des Daseins“, womit er dessen eigene Formulierung im Aufsatz „Der Dichter und seine Zeit“ benützte.
In dem ganzen Literarischen und Biografischen ging die gespielte Zwischenmusik etwas unter: Das Trio Mosaïque, bestehend aus der Flötistin Alice Guinet, der Geigerin Anna Kakutia und der Harfenistin Barbara Pöschl-Edrich, spielte farbenfreudig-entschieden Musik von Eugene Goossens (1893 bis 1962) und Philippe Gaubert (1879 bis 1941).