Rosenheim – Sie haben sich nur dreimal getroffen und sind sich immer fremd geblieben: Johann Wolfgang von Goethe und Caspar David Friedrich. Ein feinfühliges Porträt der Künstler ist der Schriftstellerin Lea Singer in ihrem Roman „Anatomie der Wolken“ gelungen, den die promovierte Literaturwissenschaftlerin vor zahlreichen Zuhörern in der Goethe-Gesellschaft Rosenheim im Künstlerhof vorstellte.
Goethe und Friedrich hätten unterschiedlicher kaum sein können. Der weltberühmte, wissbegierige Dichter war auch mit 60 Jahren, als er Friedrich 1810 zum ersten Mal traf, laut Singer vital und hatte ein ungebrochenes Interesse an neuen Wissensgebieten. Friedrich hingegen, ein widerborstiger und mystischer Mensch, war damals als Maler noch völlig unbekannt.
1810 befand sich Goethe in einer Lebenskrise. Sein Roman „Wahlverwandtschaften“, obgleich ein Buch von zukunftsweisender Modernität, war ein Misserfolg, vor seiner Frau Christiane schien er mehr auf der Flucht zu sein. Der 25 Jahre jüngere, eigenbrödlerische Friedrich, der in finanziellen Nöten war, konnte weder korrekt schreiben noch reden. Beide hätten laut Singer völlig unterschiedliche Temperamente und Sichtweisen besessen, die sich nicht ausgleichen ließen: „Friedrichs ungepflegter Bart war für Goethe ein Symptom dessen, was an dem Maler krank war.“
Goethe und Friedrich waren jedoch beide gebannt von der Erkundung der Wolken: Goethe als Forscher, Friedrich als Künstler. In Goethes Gedicht „Schäfers Klagelied“, das Friedrich gemalt hat, habe der Dichter nur Gebirge von Wolken erkannt. Goethe sah in ihnen lediglich für die Wissenschaft interessante meteorologische Phänomene. Friedrich hingegen, der mit Wolken Trost und Freiheit verband, habe sie leicht und mühelos lesen können. „Für den Maler war es ein religiöser Gewinn, die Schönheit der Wolken anzusehen“, erklärte Lea Singer. Sie seien für ihn zugleich Vergangenheitssymbol und Meditationsobjekt.
Singer las aus ihrem Roman mehrere Passagen, darunter eine kurze Vorstellung Goethes und Friedrichs. Für die Autorin besitzen historisch verbürgte Tatsachen belletristische Qualitäten, was sie die „Poesie des Faktischen“ nannte. Die Orte der Begegnungen seien historisch verbürgt. Gleichwohl erlaube der Roman fiktive Dialoge, um die Protagonisten als Menschen verstehbar zu machen.
Die Bedeutung von Wolken werde laut Singer heute zunehmend erkannt. Seit 2006 gebe es sogar eine „Gesellschaft zur Wertschätzung der Wolken“, die weltweit viele Tausend Mitglieder besitze. Singers Resümee: „Goethe und Friedrich sind in der Gegenwart angekommen.“Georg Füchtner