Idee einer höheren Gerechtigkeit

von Redaktion

Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ bei Goethe-Gesellschaft Rosenheim

Rosenheim – Am 26. Juni 1797 schreibt Schiller an Goethe: „Hier sende ich Ihnen meine Ballade. Es ist ein Gegenstück zu Ihren Kranichen.“ An Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ lässt sich die Zusammenarbeit der beiden Dichter bei der Entwicklung des Klassikkonzeptes gut verfolgen.

Der gebürtige Rosenheimer Professor Rudolf Drux erläuterte in einem humorvollen, lebendig präsentierten und mit zahlreichen Briefzitaten aufgelockerten Vortrag „Die Kraniche des Ibykus – Goethes Idee und Schillers Realisation einer klassischen Ballade“ deren Entstehungsgeschichte. Drux sprach vor zahlreichen Zuhörern auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim im Künstlerhof am Ludwigsplatz. Ein beeindruckendes Hörerlebnis präsentierte Vereinsmitglied Peter Rotter, der sämtliche 23 Strophen der Ballade auswendig zum Besten gab.

Schillers Ballade handelt von der Ermordung des griechischen Dichters Ibykos, der auf dem Weg zu den Isthmischen Spielen Räubern in die Hände fällt. Einziger Zeuge des Mordes ist ein Schwarm Kraniche. Nach dem düsteren Chorgesang der Erinnyen in einer Tragödie während der Spiele ziehen Kraniche über das zum Himmel offene Theater. Unwillkürlich ruft einer der Täter: „Sieh da! Sieh da, Timotheus, Die Kraniche des Ibykus!“ Sofort erkennt das Auditorium die Mörder, die „getroffen von der Rache Strahl“ ihre Tat gestehen.

„Schillers Ballade war nicht die erste Fassung“, erklärte Drux. Goethe habe sich von Schiller eine stärkere Betonung der Kraniche gewünscht und aus ihnen „ein langes und breites Phänomen“ machen wollen, zumal, so Goethe, das Gedicht „ohnehin nicht lang“ sei. Schillers spätere umfangreichere Fassung hatte jedoch 23 Strophen.

Als empirisch geschaute Naturphänomene sollten die Kraniche laut Goethe eine symbolische Funktion besitzen, das Schicksal anzeigen und die Idee einer höheren Gerechtigkeit darstellen. Schiller, so Drux, habe Goethes Rat bereitwillig angenommen. Dankbar schreibt Schiller: „Ich werde suchen, diesen Kranichen, die doch einmal die Schicksalshelden sind, eine größere Breite und Wichtigkeit zu geben.“

Der Chor der Rachegöttinnen im Theater sei laut Drux der Verfechter einer göttlichen Ordnung und allumfassender Gerechtigkeit. Sein Gesang besitze eine kultische Dimension, der Auftritt der Furien schaffe eine Atmosphäre mit durchschlagender Wirkung auf das Unterbewusstsein der Mörder, die beim Anblick der Kraniche die Kontrolle verlieren.

Schiller habe bereits 1784 die herausragende Rolle des Theaters betont. Die Wahrheit halte auf der Bühne unbestechlich Gericht. Zudem könne das Theater zur Einheit der Nation beitragen. In der 12. Strophe „Wer zählt die Völker…“ spreche der Dichter mit Blick auf die disparaten politischen Verhältnisse im Deutschland der Goethe-Zeit zum Vaterland und zum Herzen und helfe, die Nation durch einen Nationalgeist zu einen. In Schillers Ballade, so Drux´ Resümee, näherten sich Natur und Kunst ganzheitlich dem Menschen gemäß dem von Goethe und Schiller angestrebten Klassikerideal.

Georg Füchtner

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