Bad Aibling – Holz ist der Werkstoff, mit dem sich die Künstlerin Octavia Hanel seit ihren Studienjahren mit großem Ernst und unendlicher Sorgfalt auseinander setzt. Holz ist für sie nicht nur Material, es erzählt die Geschichte von Wachstum, Schutz, Atmung, Schönheit, Leben, aber auch vom Vergehen – es birgt in sich eine ganze Welt.
Octavia Hanel hat für ihr künstlerisches Schaffen die Linde ausgewählt, einen Baum, der im Volksmund wegen seiner leuchtenden Blüten in früheren Zeiten „Lichtbaum“ genannt wurde. Auch das Holz der Linde ist hell, und es gilt als leicht zu bearbeiten. Die Linde ist zudem aufgeladen mit allegorischer Bedeutung. Seit Jahrhunderten kreisen die Gedanken und Gefühle von Dichtern und Komponisten um diesem Baum.
Für ihre Skulpturen schleift die Künstlerin das Holz zahlreiche Male, sodass die Oberfläche eine makellose Glätte erhält. Gerne sucht sie Hölzer ohne Astlöcher oder starke Maserung aus. Dann wirkt das helle Holz nahezu rein, sagt sie.
Das ist ihren Gestaltungsideen sehr nahe: Die vogelähnlichen Wesen, die sie in unterschiedlichen Formen schafft, sind als Boten zu verstehen, als Mittler zwischen Leben und Tod. Zwei der Werkreihen tragen Titel wie „Seelenreise“ und „Seelenträger“. Es entspricht dem Glauben früherer Zeiten, dass der Mensch nach seinem Ableben von Vögeln fortgetragen wird. Wohin, ist das große Geheimnis menschlichen Lebens. Diesen Gedanken hat Octavia Hanel in ihren Arbeiten aufgegriffen. Die dunkelrote Färbung der „Seelenträger“ weist auf den Lebenssaft hin, rot assoziiert demnach das Leben und das Weiterleben nach dem Tode.
Sehr bewusst und reduziert hat sie diesen Vögeln ihre Form gegeben. Wenige Einschnitte ins Holz deuten das Gefieder an, der schmale Hals endet in einem nach oben gereckten Kopf, der in einen ebenfalls nach oben gerichteten Schnabel übergeht. Manchmal ist ein Schnabel zum Gesang geöffnet. „Etuden“ hat Octavia Hanel ihre Ausstellung genannt und übernimmt damit einen Ausdruck aus dem Bereich der Musik.
Den Titel „Etuden“ trägt auch die Gitarrenmusik, die der Sohn der Künstlerin, Dominik Hanel, eigens als Hintergrundklang zur Ausstellung komponiert hat.
Mit ihren Mitteln der künstlerischen Gestaltung formt sie eine ganze Anzahl der von ihr mit „Vokalisen“ betitelten kleineren Vögel. So nimmt sie zu dem Aspekt der Bewegung auch den des Klangs. Vokalisen sind gesangliche Übungen, in denen lediglich Vokale intoniert werden. Die Form der Vögel erinnert an Musikinstrumente, an Panflöten oder eine Klaviatur.
Die Papiercollagen an den Wänden stehen zu den Skulpturen in engem Verhältnis. Hier ebenfalls sind Vögel, manchmal singende Vögel, zu sehen. Für die Collagen werden mehrere gleiche Formen ausgeschnitten und versetzt übereinander geklebt. Von der Seite einfallendes Licht erzeugt Schatten. Bei Skulptur und Collage gleichermaßen fällt eine mehr oder weniger dichte Aneinanderreihung von Linien auf. In die Collagen werden sie mit Bleistift oder Tusche hineingezeichnet, in die Skulpturen hineingeschnitten oder gesägt.
Diese Linien verleihen allen Arbeiten rhythmische Bewegung, die von einer Werkgruppe zur nächsten überspringt. So macht Octavia Hanel in gewisser Weise Musik sichtbar.