Rosenheim – Was haben Torwart Manuel Neuer und Schriftsteller Robert Musil gemeinsam? Sie gestalteten sicht- und hörbar das Staffelfinale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“, den das Regieteam von „Regie als Faktor“, Valerie Kiendl und Dominik Frank, in der Vetternwirtschaft zum theatralisch-epischen Spektakel aufbereitet hatten.
Musils Roman fächert ein weites Panorama der Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf: Alle Schichten werden durchleuchtet, der intellektuelle Schöngeist und Wissenschaftler Ulrich ebenso wie der Frauenmörder Moosbrugger. Im vierten Teil nahmen nun die Theatermacher die ins Faschistische tendierenden Strömungen in Österreich in den Blick. Sie werden personifiziert in dem wüst schwadronierenden Studenten Hans Sepp und seiner in „platonischem Sex“ verbundenen Freundin Gerda Fischl, der Tochter eines reichen jüdischen Bankiers. Die nebulösen, antirationalen Gedanken und Träumereien des Hans Sepp kristallisieren sich zu dem Credo, Österreich müsse sich an Deutschland anschließen, da die Deutschen sowieso alles besser könnten.
Die Deutschen können alles besser: Kiendl und Frank hatten die verführerische Idee, die deutsche Überlegenheit am Beispiel eines Fußballspiels gefühlsmäßig erfahrbar zu machen und das Publikum in die von Hans Sepp aufgemischte Menge einzubinden. Der besondere Gag war, den Theaterablauf mit der Live-Übertragung des Spiels Deutschland gegen Estland zu koordinieren, ja zu synchronisieren.
Das Riskante war, dass doch einige Unbekannte die Rechnung erschwerten, Längen nicht zu vermeiden waren und mehr als geplant improvisiert werden musste. Wer hätte auch gedacht, dass Manuel Neuer (er wurde von der Fischl als „deutscher Siegfried“ apostrophiert) nicht nur sämtliche Bälle hielt, sondern dass seine „deutschen Freunde“ in kurzer Zeit den armen Esten gleich achtmal ins Tor schossen… Die Partykanonen waren bald alle, und zudem fielen die Tore leider immer dann, wenn sie dramaturgisch nicht so recht passten. Die nach jedem Tor fällige Rezitation eines Stefan-George-Poems kam dann zeitverzögert – das feierlich-priesterliche Pathos Georges war Hans Sepp und den Seinen weltanschauliches und ästhetisches Ideal.
Der Abend war als Public Viewing mit Großleinwand im Freien aufgezogen. Hans Sepp und Gerda Fischl, denen Justus Dallmer und Elisabeth McCarthy mit Hingabe Stimme und Gestalt liehen, versuchten mit dieser Demonstration deutscher Überlegenheit Zustimmung zu ernten und „Parteigenossen“ zu rekrutieren. Die Tische schmückten die Farben Schwarz, Rot, Gold in Form von Tüchern, Luftschlangen und Bierdeckeln. Den Zuschauern wurde sogar die deutsche Flagge auf die Wangen gepinselt – wie man’s eben aus dem richtigen Leben kennt!
Dallmer und McCarthy kommentierten das Spiel mit perfider Demagogie, die Stimme hysterisch überdreht: „Der Schiedsrichter ein Türke, oje!“ „Und wieder liegt ein Deutscher gefoult am Boden! Nur Deutsche spielen fair!“
Dann aber postierten sie sich zu beiden Seiten der Leinwand und wurden zum Sprachrohr des Autors. Im Wechsel lasen sie Originaltexte Musils, die an sarkastischer Treffsicherheit nichts zu wünschen übrig lassen: „Der Mensch glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muss. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muss.“ Die nötige Begeisterung versuche er „mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben zu erreichen, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit…“
Das Publikum spendete der originellen Regie und den beiden mit vollem Einsatz aktiven Schauspielern herzlichen Beifall. Ende September beginnt die zweite Staffel. Man darf gespannt sein, was Valerie Kiendl und Dominik Frank noch alles zu Robert Musil einfällt!