Kiefersfelden – Es ist ein gewaltiger Auftakt: Hinunter geht es in die düstere Gruft der Burg Höllenstein. Der tapfere Ritter Wendelin findet dort zwei Särge: einen schwarzen und einen weißen. Und hat soviel Mut, dass er mit der weißen Seite eines schwarz-weiß bemalten Stabes, den er im Gemäuer findet, auf die mysteriöse Totenglocke schlägt. Mit dem Glockenklang erlöst er den guten Geist Adelmann, der sich aus dem weißen Sarg erhebt.
Symbolischer Gang
in die Gruft
Der Gang in die Gruft ist zugleich ein symbolischer Weg hinein in des Menschen Seele. Beides schlummert in ihr: unendlich Gutes, entsetzlich Böses. Über 66 Szenen breitet sich im Theaterhaus der Kiefersfeldener Ritterspiele eine atemberaubende Seelenschau aus, die wirklich, wie im Programmheft angekündigt, mystisch und furios ist.
Die Handlung, beruhend auf dem zweibändigen Ritterroman „Wendelin von Höllenstein oder die Totenglocke, eine Geistergeschichte“ des Wiener Autors Josef Alois Gleich, lässt sich ein wenigen Worten beschreiben: Zunächst guter Ritter wird vom Satan – der böse Geist Walluf – verführt und wandelt sich mehr und mehr zum durchtriebenen Schurken, der weder vor Brandstiftung noch vor Mord zurückschreckt.
Wendelin taumelt auf dem gefährlichen Grad zwischen Gut und Böse hin und her. Kurz vor dem endgültigen Absturz sprengt nur seine Bereitschaft zu Reue, Buße und Umkehr die teuflischen Fesseln.
Das klingt ziemlich religiös, ist es auch: Das Originalmanuskript, umgeschrieben von Josef Georg Schmalz, wurde 1860 und 1875 sogar im hölzernen Passionsspielhaus in Erl aufgeführt, sozusagen als Zwischenspiel zur Passion. Denn es stehen sich im übertragenen Sinn der Allmächtige und der Leibhaftige auf der Kieferer Bühne im hochdramatischen Zweikampf gegenüber. Die Seele des Ritters Wendelin wird zu ihrer Bühne.
Gigantisch wüten die Streitenden in ihm und doch ist er es allein, der die Entscheidung hin zum Guten oder Bösen trifft. Kein Wunder also, dass der gute Ritter Adelmann alias der Allmächtige den unglücklichen Wendelin, der vor die Pforte der Hölle gebracht werden soll, wieder und wieder mahnt: „Du hättest besser prüfen sollen. Prüfe dein Herz. Dein Herz ist frei.“
Die 36 handelnden Personen bauen über drei Akte lang einen Spannungsbogen auf, dem es an nichts fehlt: unheilkündender Donner, plötzlich aufloderndes Feuer, Höllenschlund, der sich wie durch Geisterhand öffnet und die Menschen in die Tiefe reißt, klirrende Schwertkämpfe, Mord und Totschlag, düsteres Femegericht. Ganz zu schweigen von der mitreißenden Begleitmusik, natürlich live gespielt.
Gegen diesen fast dreistündigen Höllentrip ist jede Netflix-Serie ein schwacher Abglanz. So sah es auch Landtagspräsidentin Ilse Aigner, die – zwar etwas verspätet durch den Wochenendstau – zur Premiere kam, aber nicht minder gebannt das Spiel verfolgte. Zur Entspannung durfte sie die Musikkapelle in der Pause dirigieren und wurde mit der beeindruckenden Bühnentechnik vertraut gemacht. Für kurze Erholungspausen sorgte auch der Kasperl mit seinen tief-bayerischen Einlagen.
Ein Sonderlob gilt dem jungen Hauptdarsteller – wie immer werden bei den Ritterspielen nicht die Namen der Darsteller genannt – der einen derart zerissenen Wendelin gibt, dass dem Zuschauer bei jeder Entscheidung – zunächst meist hin zum Bösen – das Herz blutet.
Um eines voraus zu nehmen: Gott rettet! Er führt den einst so edlen Ritter auf Pilgerreise, in den Kreuzzugskampf, wo er von Szarazenen gefangen genommen wird – einer der Sklaventreiber ist übrigens Pater Matthäus aus dem Kloster Reisach.
Und jetzt taucht er endlich auf: der Löwe. Ob das denn ein echter sei, fragt das kleine Mädchen neben mir ängstlich. So recht lässt sich das wilde Tier im Dunkel der Bühne nicht erkennen. Wer genau wissen will, ob der Löwe echt ist, hat noch bei den Aufführungen an allen Wochenenden bis 1. September dazu Gelegenheit.