Ein Mädchen, keine Säulenheilige

von Redaktion

Sehr berührend: „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Theater Wasserburg

Wasserburg – Wenn Juden wieder zum Ziel werden, ist es Zeit zu erinnern. Das Wasserburger Theater Belacqua hat mit „Das Tagebuch der Anne Frank“ somit das Stück der Stunde auf den Spielplan gesetzt.

Ihr Tagebuch: Es ist ein schwarzer Kubus mit bemalbaren Wänden, einer Bank und einem alten Koffer. Dieser Kubus steht auf einem Podest, wie ja auch Anne Frank, die Symbolfigur schlechthin für den Schrecken der Nazi-Diktatur.

Ein Mensch,
keine Ikone

Und dann kommt sie selbst. Im geblümten Kleidchen, mit Strümpfen und mit Schulranzen. Schauspielerin Annett Segerer wirkt wie aus einem alten Foto entsprungen. Sie baut eine Kamera auf, mischt sich unters Publikum und macht mit Selbstauslöser ein Foto. Die Zuschauer werden vom Blitzlicht erfasst. Und ein kurzes Blitzlicht wird auch auf die Klassenkameraden von Anne Frank geworfen, die sie in den Zuschauerreihen scheinbar erkennt. Anne Frank entpuppt sich zum Entrée als ein auch herausforderndes, schnippisches Gör.

Behänd springt Annett Segerer aufs Podest, mitten in ihr Tagebuch; sie schreibt und zeichnet an die Wände. Sie nimmt die Kreide lässig wie eine Zigarette, lehnt sich lasziv an die Wand und kokettiert in Zarah-Leander-Manier. Damit ist schnell klar, dass es bei dieser „Produktion nicht vordergründig um das unermessliche Leid geht, das die Nationalsozialisten den Juden angetan hat.

Regisseur Mario Eick, den man in Wasserburg mit seiner preisgekrönten „Macbeth“-Version noch in bester Erinnerung hat, will mit Anne Frank nicht nur eine Ikone des historischen Unrechts präsentieren. Das denkt ohnehin jeder Zuschauer automatisch mit, Eick gewährt etwas Neues, Spannendes: einen Blick auf den Menschen Anne Frank, das unerhört genau reflektierende junge Mädchen, das unter extremen Bedingung zur Frau reift. Ihre Geschichte berührt um so mehr.

In ihrem Versteck unterm Hausdach, das sie jahrelang nicht verlassen kann, harrt sie zusammengepfercht mit ihrer Familie und anderen Juden der Dinge. Die einzige Freiheit, die ihr bleibt, ist das Tagebuch, dem sie ihre geheimsten Gedanken anvertraut. Da ist zum Beispiel der ständige Konflikt mit ihrer Mutter, die sie nicht lieben kann, und die sie im Zorn schon mal schlagen möchte.

Gerade solche Textstellen machen diese Produktion so bemerkenswert. Es macht diese Anne Frank so beklemmend lebendig, wenn man auch die Kämpfe verfolgt, die sie mit sich selbst austrägt. So gibt es nicht nur die eine Anne Frank, die unbekümmerter scheint als die Erwachsenen, die auch mal Widerworte gibt und Witze macht. Wie gerne wäre sie diese andere Anne Frank, die ernstere, die sie in ihrem Inneren trägt, aber nicht zeigen kann.

Annett Segerer verwandelt sich zusehends in Anne Frank. Man spürt ihre Wut ebenso wie ihre Sehnsucht, verfolgt gebannt, wie sie sich ihren imaginären Freund an die Wand malt. Ein subtiles Psychogramm entsteht, von einem pubertierenden Mädchen, das das Aufkeimen körperlicher Begehrlichkeiten spürt, das aber auch von Albträumen geplagt ist. Ihr Schrecken ist es, in Hilflosigkeit gefangen zu sein. Es ist beklemmend, wenn sich die Bühne verdüstert, sie am Ende mit angezogenen Knien auf der Bank sitzt und ihr Gesicht einem letzten Lichtstrahl entgegenreckt.

Anne Frank
konnte zornig sein

Der Abend entwickelt einen Sog. Das liegt auch an der sparsam eingesetzten Geräuschkulisse, die die Bedrohung immer näher heranrückt, aber auch die Innerlichkeit von Anne Frank spiegelt. Gelegentlich verbreitet Edith Piaf Sehnsucht. Als Leitmotiv aber erklingt, zunächst in Tonfetzen und am Ende in voller Pracht „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“ von den Comedian Harmonists. Es dauert eine Weile, bis sich der von Betroffenheit gedämpfte Beifall zu begeistertem Klatschen löst. Ebenso geht es Annett Segerer, die erst wieder aus der Figur der Anne Frank herausfinden muss, um sich über ihren Erfolg zu freuen.

Nächste Aufführungen am Freitag, 10. Januar, und Samstag, 11. Januar.