Verzweiflung und Notprojekte

von Redaktion

Corona-Schlaglichter auf die Situation der Kulturszene in der Region

Rosenheim – Abgesagte Konzerte, verschobene Auftritte, geschlossene Kinos: Das Coronavirus hat bundesweit die Kulturszene lahmgelegt. Es ist eine gravierende und teils existenzbedrohende Krise für Musiker und bildende Künstler, Theater und Lichtspielhäuser, Veranstalter und Schauspieler. Und während beispielsweise die Gastronomie zumindest eine Zeithorizont hat, wann wieder geöffnet werden kann, tappen Konzertveranstalter, Kinos und Theater noch völlig im Dunklen.

Was bedeutet die Krise für Kulturvermittler und Spielstätten in der Region Rosenheim? Für viele Künstler in Stadt und Landkreis ist Andrea Hailer Ansprechpartnerin: Sie betreibt Öffentlichkeitsarbeit für viele kleine Kinos und ist Erste Vorsitzende des Rosenheimer Kulturforums. Am Telefon berichtet sie von großer Verzweiflung in der hiesigen Kulturszene. Sie hatte bereits nächtliche Anrufer zu beruhigen, die in wahrhaft existenziellen Nöten waren – eine echte Herausforderung, die auch ein großes gesellschaftliches Manko offenbart, denn viele Künstler fallen durch das Raster staatlicher Auffangmaßnahmen. Erst jüngst gab es Verlautbarung, auch für Solo-Selbstständige im Kulturbereich Töpfe zu schaffen.

Wie schaut die Situation in den Kinos in der Region aus? Robert Siersch, Betreiber der „Aibvision“-Kinos in Bad Aibling, vermisst die Routine in den anfallenden Arbeiten, und antwortet, angesprochen auf seine Angst: „Ich versuche das jetzt vor allem auch als Chance zu begreifen, dass wir im zukünftigen Betrieb von einigen Dingen wegkommen, die unsere Branche schon länger belasten und die krisenbedingt vielleicht doch mehr Beachtung und Dringlichkeit erfahren.“

Leerer Kinosaal
wirkt surreal

Mike und Martina Engel von „Mike‘s Kino“ in Prien fehlen die Gespräche und das Publikum. Das leere Kino empfinden beide fast als surreal. Martina Engl auf die Frage nach ihrer Angst: „Ich versuche, positive Seiten zu sehen, die es durchaus gibt und die Zuversicht nicht zu verlieren, dass am Ende alles gut wird.“ Mike Engel hofft, dass alle gesund bleiben bis zu einer Wiedereröffnung und bedankt sich beim Publikum für Gutscheinkäufe und Zuspruch via E-Mails.

Kleiner Streif
am Horizont

Rainer Gottwald vom „Utopia“-Kino in Wasserburg sieht einen kleinen Hoffnungsstreif im Open-Air-Kino am Stoa und bei einem potenziellen, noch zu organisierenden Autokino.

Marias Kino in Bad Endorf hingegen ist ein Sonderfall, denn die Kinoinitiative arbeitet ehrenamtlich. Jürgen Bach vom zugehörigen Verein meint zur aktuellen Lage: „Es ist wie der Winterschlaf im Tierreich, aber wir leben ja von der Kommunikation und die ist eben stark eingeschränkt.“ Er kann sich für die Zukunft ein abgespecktes Programm mit reduziertem Platzangebot vorstellen.

Kathrin Weimar und Tom Janko von der Konzertagentur „Crossgammy“ sehen sich gerade einem Berg organisatorischer Arbeit gegenüber, allerdings ohne damit Einkünfte zu erzielen. Das „Irschenberg-Festival“ ist verschoben auf November, weitere Konzerte sind abgesagt oder verschoben. Viel Arbeit macht die Rückabwicklung des komplexen Kartenvorverkaufs. Ein Lichtblick sind die Benefizkonzerte von Sarah Straub, die per Stream im Internet übertragen wurden.

Gute Nachrichten hört man vom „Le Pirate“ in Rosenheim: Umfangreiche Maßnahmenpakete stützen das Lokal und dessen Pächter Thomas Jonas. Der Vermieter zeigt sich kulant wegen der Mietzahlungen, die Brauerei Auer nimmt Bierlieferungen zurück und Jonas selbst bleibt bei der Stange. Er hält sich mit einem Gelegenheitsjob und privater finanzieller Unterstützung seitens der Vorgänger Antje und Wolfgang Lentner über Wasser. Mit ihnen initiiert der einstige Sterne-Koch – Jonas hat im „Tantris“ gekocht – demnächst eine „Jazz-Kochshow“, die live aus der Lentnerschen Küche per Internet übertragen werden soll. Jazzdozent Michael Keul erzählt dazu Anekdoten und natürlich soll dabei auch musiziert werden.

In Wartestellung ist auch die sehr aktive Rosenheimer Theaterszene. Renate Mayer vom Theater „Tam-Ost“ gibt an, dass zehn Vorstellungen von „Warten auf Godot“ abgesagt werden mussten. Auch das zweite Frühjahrsstück „Terror“ fällt in die Sperrzeit. Mayer beziffert den Ausfall an Eintrittsgeldern auf einen knapp fünfstelligen Betrag, während hingegen die Fixkosten für Miete, Strom und Nebenkosten geblieben sind. Das Ensemble hofft nun, dass man im Frühsommer vielleicht mit „Godot“ weitermachen kann.

Daniel Burton, Vorstand der „Theaterinsel“, berichtet, dass bislang eine Musikveranstaltung, zwei Poetryslams und zehn Aufführungen des Stücks „Die Wunderübung“ ausgefallen sind. Große Unsicherheit gäbe es bei der Programmplanung, denn es käme ja auch darauf an, wie die Beteiligten Zeit hätten. Weil auch Proben derzeit nicht möglich sind, gibt es in diesem Jahr kein Sommerstück im Freien. Auch eines der beiden Herbststücke wird wohl ausfallen.

Das Theatermachen geht einem ab

Zum Glück sei „Arsen und Spitzenhäubchen“ finanziell eine erfolgreiche Produktion gewesen, sodass die Theaterinsel bis Ende des Jahres einen finanziellen Puffer habe, sagt Burton. Existenzbedrohend ist die Pause nicht: Verein und Ensemble arbeiten ehrenamtlich und der langjährige Intendant Toni Müller ist als Rentner finanziell nicht vom Theater abhängig. Daniel Burton meint abschließend: „Das Theater-Machen geht einem schon sehr ab und auch die ganzen Theaterkollegen und Freunde.“ Das könnten wohl alle Kulturschaffenden unterschreiben.

„Kultur ist Wertschätzung, Lebensgefühl, Menschlichkeit“

„Es zerreißt mein Herz, wenn ich an die Kinos, Galerien, Theater, Konzertplätze – alle Plätze, an denen Kultur für das Publikum passiert, denke und vor allem an die Menschen davor und dahinter. Nicht, weil ich nicht mit Stille umgehen kann. Nicht, weil ich mir oft gewünscht habe, dass wir Kulturleute uns alle ganz rebellisch zusammentun und zum großen „Kulturfasten“ aufrufen, um spüren zu lassen, dass Kultur – egal in welcher Form – einen Wert hat, der niemals mit einem Ticket bezahlbar ist. Kultur hat etwas mit Wertschätzung, Lebensgefühl, Menschlichkeit zu tun, ist der Schlüssel zu so vielem. Wenn dann aktuell das russische Staatsballett von zu Hause aus in den Tagesthemen durchs Bild springt und alle ganz entzückt sind, birgt das schon eine gewisse Tragik in sich. Natürlich sind wir alle Publikumsmenschen, wir lieben Euch - nur: Wenn die Mäuse mit verweinten Augen aus dem Brotkasten schauen, können wir bald auch nichts mehr geben, wir möchten nicht wie Karl Valentin, an dem heute noch soviel Geld verdient wird, verhungern. Kultur ist auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, als solcher sollte sie endlich ernst genommen werden. Aber reden wir von den vielen Menschen, die momentan schreiben, mailen, wie sehr sie uns vermissen. Von denen, die Gutscheine kaufen, wie verrückt. Von denen, die Kuchen vor die Kinos stellen. Mir selbst gestrickte Socken schicken. (Danke!) Von dem Journalisten, der diesen Beitrag hier schreibt. Für Euch halten wir durch. Und alle anderen: vergesst niemals die Zeit des großen Kulturfastens. Schreibt Euch jetzt auf, was Ihr sehen, hören, erfahren möchtet, wem Ihr Kuchen und Socken in die Garderobe stellen wollt, und hängt es an Eure Spiegel. Und tut es! In diesem Sinne – weida midanand.“

Andrea Hailer,

1. Vorsitzende Kulturforum Rosenheim

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